Düsseldorf/Koblenz (dpa/AFP/rtr/epd). Die durch Starkregen ausgelösten Überschwemmungen im Westen Deutschlands haben mehr als 100 Menschen das Leben gekostet. Die Zahl der Toten stieg am Freitag mit dem Voranschreiten der Bergungsarbeiten weiter an. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) und die rheinland-pfälzische Regierungschefin Malu Dreyer (SPD) äußerten die Sorge, dass sich die Zahl der Opfer weiter erhöhen werde. In beiden Bundesländern wurden noch zahlreiche Menschen vermisst.
Laschet sprach am zweiten Tag nach dem Starkregen, der in der Nacht zum Donnerstag kleine Bäche zu reißenden Flüssen verwandelt hatte, von einer Katastrophe historischen Ausmaßes. Allein in seinem Bundesland hätten mindestens 43 Menschen ihr Leben verloren. Innenminister Herbert Reul zufolge sind in NRW 25 Städte und Landkreise von den Fluten betroffen. Rund 19.000 Kräfte etwa von Feuerwehr und THW seien im Einsatz.
"Es ist zu befürchten, dass die Zahl weiter ansteigen wird"
Die Zahl der Toten in Rheinland-Pfalz bezifferte Dreyer am Mittag auf mindestens 63: "Es ist zu befürchten, dass die Zahl weiter ansteigen wird." Nach dem Ablaufen des Wassers aus Kellern oder dem Leerpumpen würden immer wieder Tote gefunden, berichtete Landesinnenminister Roger Lewentz.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat sich an seinem Amtssitz in Berlin an alle Betroffenen gewendet: "Ich bin in Gedanken bei Ihnen, Ihr Schicksal trifft mich ins Herz." Die Bundesregierung will bereits am kommenden Mittwoch Bundeshilfen für die betroffenen Länder, Kommunen und Bürger beschließen.
Rurtalsperre in NRW war in der Nacht übergelaufen
Die Situation an der Rurtalsperre in der Eifel hat sich inzwischen leicht entspannt, sagte Laschet. In der Nacht zu Freitag war die Rurtalsperre übergelaufen. Der Anstieg des Hochwassers der Rur fiel weniger extrem aus, als zunächst befürchtet. Im Jülich konnten deshalb Menschen in ihre Wohnungen zurück.
Im heftig betroffenen Kreis Euskirchen in NRW soll ein Gutachter am Freitag erneut die Steinbachtalsperre unter die Lupe nehmen. Der Wasserstand war am Donnerstagabend durch Abpumpen zwar gesunken. Die Brauchwasser-Talsperre, deren Damm tiefe Furchen aufweist, war von einem Sachverständigen am Vortag als "sehr instabil" eingestuft worden. Deswegen wurden aus Sicherheitsgründen mehrere Ortschaften evakuiert. Betroffen waren rund 4.500 Einwohner.
Die Unwetterschäden führen im Verkehr der Deutschen Bahn auch am Freitag zu zahlreichen Einschränkungen. "Die Wassermassen haben Gleise, Weichen Signaltechnik, Bahnhöfe und Stellwerke in vielen Landesteilen von NRW und Rheinland-Pfalz stark beschädigt", hieß es - in NRW allein auf einer Strecke von insgesamt 600 Kilometern. Die Bahn bat Fahrgäste am Donnerstag, Fahrten in die von Hochwasser betroffenen Regionen möglichst zu verschieben und sich vor der Abfahrt zu informieren.
900 Soldaten in den Katastrophengebieten
Die Rettungskräfte setzen unterdessen die Suche nach Vermissten fort. Die Bundeswehr hat zur Unterstützung inzwischen rund 900 Soldaten in die Katastrophengebiete in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz geschickt. Auch etwa 1.100 Helfende von Feuerwehr, Polizei und DLRG aus Niedersachsen und rund 85 Einsatzkräfte aus Minden-Lübbecke werden zusätzlich über das Wochenende in Nordrhein-Westfalen gegen die Folgen des katastrophalen Hochwassers kämpfen. Nach Angaben des Bundesamtes für Bevölkerung und Katastrophenschutz (BBK) sind in NRW 23 Städte und Landkreise von Überschwemmungen betroffen.
Der Energiekonzern RWE hat die Suche nach einem im Tagebau Inden von Wassermassen mitgerissenen Mitarbeiter aufgegeben. Alle Anstrengungen, den 58-Jährigen zu finden, "sind leider ohne Erfolg geblieben", teilte der Konzern mit. Vermutlich könne nicht mehr davon ausgegangen werden, den Mitarbeiter noch lebend zu finden. Die Hochwasser führende Inde hatte bei Lamersdorf in Nordrhein-Westfalen einen Deich überspült und war anschließend in den Tagebau eingedrungen. In den kommenden Tagen werde weiter versucht, den Mitarbeiter zu bergen.
Im Kreis Heinsberg hat die Feuerwehr am Donnerstagabend drei Menschen aus dem Fluss Wurm gerettet, die dort gedroht hatten zu ertrinken. Wie die Kreispolizei mitteilte, waren zwei Männer und eine Frau ersten Erkenntnissen nach auf einem Boot bei Übach-Palenberg auf der Wurm unterwegs. Die Einsatzkräfte der Feuerwehr konnten sie in Sicherheit bringen, ein Rettungswagen brachte sie schwer verletzt in ein Krankenhaus.
In Erftstadt-Blessem sind aufgrund von gewaltigen Erdrutschen drei Häuser komplett eingestürzt sowie ein Teil der historischen Burg in sich zusammengesunken. Das hat die Kölner Bezirksregierung am Freitagabend mitgeteilt. Ursache seien massive und schnell fortschreitende Unterspülungen der Häuser. Aus den Häusern kämen immer wieder Notrufe. Mittlerweile konnten 55 Menschen gerettet werden, 15 seien noch eingeschlossen, teilte ein Sprecher des Rhein-Erft-Kreises mit. Ein nicht abstellbarer Gasaustritt hatte die Rettungsarbeiten zuvor behindert. Mehrere Pflegeheime wurden geräumt.
Eine weitere Katastrophe bahnt sich auf der B 265 bei Erftstadt an. Dort wurden zahlreiche Autos und LKW innerhalb weniger Minuten von Wasser unterspült. Ob und wie viele Menschen es aus den Fahrzeugen geschafft haben, ist bis zum Abend unklar.
In Stolberg bei Aachen soll es zu Plünderungsversuchen gekommen sein. Kriminelle nutzten die Hochwasserlage hier bereits aus, teilte die Polizei mit. In drei Fällen hätten Zeugen gemeldet, dass sich Menschen in überschwemmten Läden befänden. Einen Verdächtigen nahm die Polizei in einem Juweliergeschäft fest.
In Sinzig (Rheinland-Pfalz) wurden 12 Menschen in einer Behinderteneinrichtung von den Wassermassen eingeschlossen und konnten sich nicht mehr retten. Die Feuerwehr konnte nur noch die Leichen bergen. "Das ist ganz, ganz schrecklich, wenn man nur eine Sekunde lang daran denkt, dass in einem Wohnheim so viele Menschen umgekommen sind", sagte die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD). Nach Angaben des Südwestrundfunks war das Erdgeschoss der Lebenshilfe-Einrichtung in der Nacht auf Donnerstag innerhalb weniger Minuten komplett überflutet worden. Den Mitarbeitern sei es nicht mehr gelungen, die Bewohner zu evakuieren.
Auch die Lage im Kreis Ahrweiler bleibt nach dem Hochwasser dramatisch. Denn nun steht fest: „Die Gasleitung ist komplett gerissen. Wirklich zerstört", sagte Unternehmenssprecher Marcelo Peerenboom am Freitag in Koblenz. Mehrere Kilometer Leitung müssten komplett neu gebaut werden. „Das wird leider Wochen oder Monate dauern, bis dort wieder Gasversorgung ist. Das heißt für die Bürger: kaltes Wasser, und wenn die Heizperiode kommt, auch kalte Wohnung."
In Wangen im Allgäu ist aufgrund des Starkregens am späten Donnerstagabend ein Wohngebiet überflutet worden. Wie das Polizeipräsidium Ravensburg am frühen Freitagmorgen mitteilte, wurden zunächst zwei Brückendurchflüsse des Epplingser Bachs durch Treibgut blockiert. Dadurch sei das Wasser über die Ufer getreten und habe das angrenzende Wohngebiet Epplingser Halde überschwemmt.
Wegen des starken Hochwassers im Mosel-Nebenfluss Kyll waren in Trier und Umgebung Tausende Menschen in Sicherheit gebracht worden, auch ein Krankenhaus musste evakuiert werden. An allen Behörden in Rheinland-Pfalz werden die Fahnen heute auf halbmast gesetzt. Trotz abfließenden Wassers sollen die Bewohner von Trier-Ehrang noch nicht in ihre Häuser zurückkehren. Noch könne nicht abschließend beurteilt werden, ob alle von Flutschäden betroffenen Häuser im Ortskern standsicher seien, teilte die Stadt Trier mit. Dennoch: Bürgern werde das kurzfristige Begehen von Wohnungen ermöglicht, um wichtige persönliche Dinge wie Handys oder Geldbeutel herauszuholen.
Merkel: "Wir werden sie (...) nicht alleine lassen"
Die Schäden durch die Wassermassen sind in beiden Ländern immens. Das Land Rheinland-Pfalz stellt als kurzfristige Unterstützung 50 Millionen Euro bereit, um etwa Schäden an Straßen, Brücken und anderen Bauwerken zu beheben. Auch die Bundesregierung plant Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) zufolge ein Hilfsprogramm.
Kanzlerin Merkel versichert bei ihrem Besuch in den USA mit Blick auf die Betroffenen: "Wir werden sie in dieser schwierigen, schrecklichen Stunde nicht alleine lassen und werden auch helfen, wenn es um den Wiederaufbau geht." Die Kanzlerin lässt sich nach eigenen Angaben fortlaufend über die Lage in den Hochwassergebieten informieren.
Auch Nachbarländer kämpfen mit Hochwasser
Ebenfalls mit Hochwasser zu kämpfen haben Nachbarländer Deutschlands. In der Schweiz stiegen Flusspegel nach starken Regenfällen stark an. Im Kanton Schaffhausen überschwemmten laut der Nachrichtenagentur Keystone-sda angeschwollene Bäche die Dörfer Schleitheim und Beggingen. Wassermassen flossen durch Straßen, in Keller, rissen Fahrzeuge mit und zerstörten kleinere Brücken.
In Belgien wurden entlang der Maas vorbeugend Menschen aus einigen Gemeinden in Sicherheit gebrach. Zwei Menschen waren hier zuvor ums Leben gekommen.
Zum Schutz vor der Hochwasserwelle haben im Süden der Niederlande Soldaten und Einsatzkräfte Deiche an der Maas und kleineren Flüssen mit Sandsäcken verstärkt. Tausende Einwohner von Maastricht und angrenzenden Orten, die sich vor dem Hochwasser in Sicherheit gebracht hatten, konnten am Freitag aber bereits wieder in ihre Wohnungen zurückkehren, teilten die Behörden mit. Zu den befürchteten Überflutungen kam es größtenteils nicht.
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