Berlin. Vor dem Spitzentreffen von Bund und Ländern zur dramatischen Corona-Lage wächst der Druck für ein entschlossenes Handeln. Neue 2G-Regelungen sorgen für Debatten und 12.000 Soldaten werden zur Unterstützung unter anderem von Kliniken mobilisiert. Die wichtigsten Punkte der aktuellen Pandemie-Situation:
Infektionslage
Die bundesweite Corona-Lage ist dramatisch. Das Robert Koch-Institut (RKI) meldete am Samstag gut 45.000 neue Infektionen - eine Inzidenz je 100.000 Einwohner und Woche von gut 277. Vor einer Woche waren es rund 34.000 Infizierte und eine Inzidenz von knapp 184, vor einem Monat noch 12.000 und gut 65. Die Wochen-Inzidenz in Nordrhein-Westfalen lag am Samstag mit 159,8 laut RKI zwar deutlich unter dem Bundesschnitt. Doch auch im bevölkerungsreichsten Bundesland steigt der Wert seit Längerem an. In Ostwestfalen-Lippe lag die Inzidenz am Samstagmorgen bei 205,0. Auch hier steigt der Wert seit Wochen kontinuierlich. In der Region sind der Kreis Minden-Lübbecke mit einer Inzidenz von 245,6 und der Kreis Gütersloh mit einer Inzidenz von 245,1 die Corona-Hotspots.
Deutschlandweiter Corona-Hotspot aber ist der Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge. Dort lag die Sieben-Tage-Inzidenz am Samstag bei 1.146,2. Es folgen die bayerischen Landkreise Rottal-Inn (1.122,3) und Miesbach (1.117,0). Sachsen ist auch das Bundesland mit der höchsten Wocheninzidenz (620,7). Berlin überschritt inzwischen die Inzidenz von 300 und Thüringen von 500.
"Echte Notsituation"
Die Krankenhäuser sind in einigen Regionen Deutschlands bereits am Limit. Intensivmediziner-Präsident Gernot Marx rief Bund und Länder wegen einer "echten Notsituation" vieler Kliniken zur Verschärfung der Anti-Corona-Maßnahmen auf. In Sachsen, Thüringen und Bayern sei die Lage wegen der stark angestiegenen Zahl der Intensivpatienten "schon jetzt sehr, sehr angespannt", sagte der Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) der Neuen Osnabrücker Zeitung. Die Charité im Ballungsraum Berlin habe schon alle planbaren Operationen abgesagt.
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"Das ist eine echte Notsituation. Wegen der Erfahrungen der vorangegangenen Wellen gehen wir fest davon aus, dass schon bald Patienten wieder aus Corona-Hotspots in Kliniken außerhalb verlegt werden müssen", sagte Marx. "Wir sind jetzt schon in einer kritischeren Phase, weil wir aufgrund der erschöpften und ausgebrannten Pflegekräfte, die den Job hingeworfen oder ihre Arbeitszeit reduziert haben, 4.000 Intensivbetten weniger belegen können als vor einem Jahr." Dass nicht mehr alle Schwerkranken vollumfänglich versorgt werden können, befürchtet der Divi-Präsident nicht. Allerdings würden zahllose planbare Eingriffe, zum Beispiel Herz-OPs, womöglich für Monate aufgeschoben werden müssen. Das verursache viel Leid, sagte Marx.
Appell aus der Wissenschaft
35 Forscher und Forscherinnen unter Federführung des Internisten Michael Hallek und der Virologin Melanie Brinkmann beklagen "den wiederholt nachlässigen Umgang mit dem Wohlergehen der Menschen, die auf den Schutz des Staates angewiesen sind". Sie mahnen: "Jeder Tag des Abwartens kostet Menschenleben."
In einem vom Kölner Stadt-Anzeiger und Redaktionsnetzwerk Deutschland veröffentlichten Aufruf fordern sie einen nationalen Krisenstab mit Fachleuten und Praktikern aus Virologie, Medizin und Unternehmen.
Merkel: "Schwierige Wochen"
Die geschäftsführende Kanzlerin Angela Merkel (CDU) schlägt selbst in die gleiche Kerbe: "Es hat uns immer geholfen, wenn Bund und Länder vorgehen und sich zu einheitlichen Regeln verpflichten", sagte sie in ihrem Video-Podcast. „Es sind sehr schwierige Wochen, die vor uns liegen", sagte sie.
Merkel wies auf den sogenannten Hospitalisierungsindex hin, der die Zahl der Corona-Patienten in den Krankenhäusern angibt: Damit daraus die richtigen Schlussfolgerungen gezogen werden könnten, müssten sich Bund und Länder „sehr schnell" auf einen gemeinsamen Schwellenwert einigen, „ab dem jeweils entsprechend der regionalen Infektionswerte verbindlich über die bisher geltenden Maßnahmen hinaus zusätzliche Schritte zur Eindämmung der Pandemie" eingeleitet werden könnten. Sie und die Ministerpräsidenten wollen am kommenden Donnerstag über weitere Maßnahmen beraten.
Pläne der Politik
Selbst aus den Reihen der Grünen gibt es inzwischen Kritik am Plan der Koalitionsverhandlungspartner SPD, Grüne und FDP, den Sonderstatus der epidemischen Lage nationaler Tragweite auslaufen zu lassen.
Dennoch wollen die koalitionsbildenden Parteien SPD, Grüne und FDP weiterhin den Sonderstatus der epidemischen Lage nationaler Tragweite zum 25. November auslaufen lassen und durch einen eingeschränkteren Maßnahmenkatalog im Infektionsschutzgesetz ersetzen. Die Unionsfraktion will offenbar eine Verlängerung des Sonderstatus beantragen, berichtete die Rheinische Post. Außerdem schlägt die Fraktion Änderungen für die von den Ampel-Parteien geplante Überarbeitung des Infektionsschutzgesetzes vor: Arbeitgeber sollen ein Fragerecht erhalten, um den Impfstatus ihrer Mitarbeiter feststellen zu können; Strafbarkeitslücken bei der Fälschung von Impfpässen sollen geschlossen werden.
Länder fordern Kurswechsel
Die Grünen-Gesundheitsminister von Hessen, Brandenburg und Baden-Württemberg fordern hingegen eine Verlängerung der gesetzlichen Sonderlage, die auch ohne erneute Zustimmung des Bundestags Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen ermöglichen würde. „Das stellt sicher, dass alle von den Expertinnen und Experten geforderten Maßnahmen umgesetzt werden können", heißt es in einem Statement von Kai Klose (Hessen), Ursula Nonnemacher (Brandenburg) und Manne Lucha (Baden-Württemberg).
Impfquote von Intensivpatienten
Die mögliche Koalition aus SPD, Grünen und FDP will genauere Daten dazu, wie viele Corona-Intensivpatienten bereits gegen das Virus geimpft sind. Dazu soll nach dem Willen der drei Ampel-Parteien das Intensivregister angepasst werden, wie der Grünen-Gesundheitsexperte Janosch Dahmen sagte. „Bislang fehlen schlicht Daten", sagte er und sprach von einem sogenannten „Underreporting" auf Intensivstationen. Er gehe davon aus, dass die Umstellung auf tagesgenaue Angaben bis Ende des Jahres umgesetzt sein werde. Betrieben wird das Intensivregister vom RKI und von der Divi. Bislang stehen nur Zahlen zur Verfügung, die verzögert darstellen, wie viele Intensivpatienten geimpft und wie viele ungeimpft sind.
Soldaten sollen unterstützen
Die Bundeswehr bereitet sich angesichts stark steigender Infektionszahlen einem Spiegel-Bericht zufolge auf eine bundesweite Corona-Notlage vor. Der zuständige Generalleutnant Martin Schelleis wolle dazu möglichst schnell bis zu 12.000 Soldaten und Soldatinnen zur Unterstützung überlasteter Kliniken und Gesundheitsämter mobilisieren. Zudem sollten uniformierte Helfer bei Booster-Impfungen und der Ausweitung von Schnelltests vor Pflegeheimen und Krankenhäusern bereitstehen.
Laut Spiegel sollen bis Ende November bereits 6.000 Soldatinnen und Soldaten Helfer bereitstehen, bis zur Weihnachtszeit dann gut 12.000. Mehr als 10.000 Soldaten habe die Truppe nur während der kritischen Phasen der Pandemie im Winter 2020 und Frühjahr 2021 im Einsatz gehabt, hieß es. Derzeit halte sie für die Unterstützung von zivilen Einrichtungen gut 3.000 Soldaten vor, im Einsatz seien laut einem aktuellen Lagebild knapp 630 von ihnen.
Kostenlose Schnelltests
Seit Samstag sind wieder kostenlose Schnelltests für alle möglich. Seit Samstag greift eine Verordnung, mit der das erst vor einem Monat stark eingeschränkte Angebot kostenloser "Bürgertests" erneut auf breiter Front eingeführt wird. Die Bescheinigungen von Testzentren und Apotheken können auch wieder als Nachweis bei Zugangsregeln zu bestimmten Innenräumen und Veranstaltungen dienen. In NRW setzten am Samstag bereits Testzentren die Verordnung um. Weitere wollen nachziehen.
Debatte zu Umgang mit Ungeimpften
Derweil lösen 2G-Regeln mancherorts Diskussionen aus. So auch die Universität Erlangen-Nürnberg mit ihrer Entscheidung, nur noch genesene und geimpfte Studierende in den Hörsaal zu lassen. „Was sind das denn für Zustände nun? Sie diskriminieren ungeimpfte Studenten und verweigern ihnen das Präsenzstudium?", schrieb eine nach eigenen Angaben ehemalige Studentin auf Twitter. „Sie haben einen gewaltigen Shitstorm verdient." Andere begrüßten die Entscheidung: „konsequent und vernünftig: 2G ist ein deutliches Zeichen - Glückwunsch zu dieser Entscheidung!"Die Uni hatte am Freitag mitgeteilt, dass bei Präsenzveranstaltungen im Hörsaal künftig eine 2G-Regelung gelten soll. „Studierende mit einem Non-2G-Status können nicht an Präsenzveranstaltungen teilnehmen, den Inhalten allerdings online folgen", teilte die Uni auf ihrer Homepage mit.
Die Universitätsklinik Essen kündigte an, bei der Einstellung von neuem Personal bald nur noch Kandidaten zu berücksichtigen, die gegen das Coronavirus geimpft sind. Es gehe bei der Maßnahme vor allem um den Schutz der Patienten, die nicht mit Corona infiziert seien, sagte der Ärztliche Direktor, Jochen Werner, der WAZ. Dafür ergänze man die Hygienemaßnahmen „für die bei uns neu angestellten Mitarbeiter um die erforderliche vorausgegangene Impfung", sagte der Klinikchef. Diese Vorgabe gelte nach einer kurzen Übergangszeit für alle Bereiche des Hauses. Die Universitätsklinik Essen zählt zu den größten Corona-Behandlungszentren bundesweit.
Der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW), Michael Hüther, schlug finanzielle Sanktionen für Impfverweigerer vor, etwa höhere Versicherungsbeiträge oder Selbstbehalte, wie er in einem Beitrag für die Welt schrieb. Der stellvertretende FDP-Vorsitzende Wolfgang Kubicki sprach sich gegen erhöhten Druck auf Ungeimpfte aus. Das bringe nichts, sagt er dem Spiegel. In einem Rechtsstaat müsse alles verhältnismäßig bleiben. "Wenn auch von Geimpften ein Infektionsrisiko ausgeht, dürfen Sie Ungeimpfte nicht schlechter stellen. Es geht infektionsrechtlich um Gefahrenabwehr, nicht um Erziehung zum angeblich besseren Menschen." (dpa/anwi/epd/AFP/rtr)