Lügde. Nach siebenmonatigen Ermittlungen wurde nun Anklage gegen die drei Beschuldigten im Lügder Missbrauchsfall erhoben. Oberstaatsanwalt Ralf Vetter und das weitere Ermittlerteam können kurz aufatmen. Doch die Untersuchungen gehen weiter, betont Vetter im Exklusiv-Interview mit unserem Kooperationspartner, der Lippischen Landeszeitung, und dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND).
Herr Vetter, bei der kleinsten Staatsanwaltschaft in NRW liegt derzeit der größte Missbrauchsfall des Landes – die Anklagen gegen die zwei Hauptbeschuldigten wegen mehr als 450-fachen Kindesmissbrauchs sind raus, wie lautet Ihre Bilanz vier Wochen vor dem Prozessstart?
Ralf Vetter: Die vergangenen Monate gingen schon an unsere Grenzen und Nerven – vier von 17 Staatsanwälten waren und sind mit diesem Fall beschäftigt, zwei davon mit nichts anderem. Zu Beginn der Ermittlungen im Dezember 2018 wirkte alles noch sehr übersichtlich, doch die Opferzahlen wuchsen und wuchsen.
Bei der ersten Pressekonferenz am 30. Januar 2019 sprach die Polizei dann von 1.000 Missbrauchsfällen auf dem Campingplatz...
Ralf Vetter: Das waren nicht unsere Zahlen. Wir waren nicht glücklich über die Zahl 1.000, weil die Ermittlungen im Anfangsstadium waren. In solchen Verfahren mit vielen Einzeltaten ist es schwierig, die genaue Zahl der Einzeltaten festzustellen. Die Opfer können oft zur Anzahl der Taten keine eindeutigen Angaben machen, wenn es sich um ähnliche Taten handelt und es sich, wie hier, um kindliche Zeugen handelt. Alle Unsicherheiten gehen da zugunsten der Täter. Wir meinen, dass wir den zwei Hauptbeschuldigten mehr als 450 Missbrauchsfälle nachweisen können und darauf kommt es an.
Die Ermittlungskommission „Eichwald" wurde mehrfach aufgestockt. Hätten Sie auch Verstärkung gebraucht?
Ralf Vetter: Wir hätten Verstärkung haben können, wenn wir gewollt hätten. Aber wir haben uns dagegen entschieden, weil es nur unübersichtlicher wird, je mehr Kollegen beteiligt sind.
Die Rolle derlippischen Polizei wurde heftig kritisiert – bis dann die Ermittler in Bielefeld den Fall übernommen haben. Sie wollten gar nicht, dass die Zuständigkeit abgegeben wird...
Vetter: Wir hatten keine Anhaltspunkte dafür, dass die Polizei vor Ort die Ermittlungen nicht leisten kann. Im Rückblick hat es sich herausgestellt, dass die Kreispolizeibehörde in Lippe doch zu klein ist für solch einen Fall.
Stand es mal zur Debatte, dass auch die zuständige Staatsanwaltschaft wechselt?
Ralf Vetter: Wir wurden gefragt, ob wir die Arbeit leisten können. Wir haben die Frage intern diskutiert und bejaht.
Ermittelt wurde auch gegen Polizisten der Kreisbehörde, denen ihr oberster Dienstherr, NRW-Innenminister Herbert Reul, mehrfach öffentlich Versagen vorwarf. Vor allem, nachdem ein Asservatenkoffer mit 155 Datenträger verschwand. Gibt es da neue Erkenntnisse? Oder ist das Verfahren eingestellt worden?
Ralf Vetter: Wir haben nach wie vor keinerlei Spuren. Das Verfahren gegen Unbekannt läuft noch und wird erst eingestellt, wenn wir sagen: Jetzt haben wir alles versucht.
Was bedeutet das? Was tun Sie denn konkret?
Ralf Vetter: Ein Sonderermittler des Landeskriminalamts, der in Lippe eingesetzt wurde, hat alles auf den Kopf gestellt und nichts gefunden. Polizisten wurden befragt, vor allem der Kommissaranwärter, der die 155 CDs auswerten sollte.
Gab es eigentlich Konsequenzen für den Polizei-Azubi?
Ralf Vetter: Nein. Er hatte die 155 CDs gesichtet, nur nicht ausgewertet. Da hätte man ihn besser anleiten müssen. Dass Kommissaranwärter solche Aufgaben übernehmen, ist meines Erachtens auch grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn sie ordentlich eingewiesen und beaufsichtigt werden. Und gegen den jungen Kollegen besteht auch keinerlei Verdacht, dass er etwas mit dem Verschwinden zu tun hat. Er ist auch nicht als Zeuge im Prozess geplant.
Wäre der Inhalt des Koffers denn relevant für den Prozess?
Ralf Vetter: Der Anwärter hat alle 155 CDs gesichtet – und nichts gefunden, was mit den Missbrauchstaten in Lügde zu tun hat. Vor allem keinerlei kinderpornografisches Material. So hat er es ausgesagt und seine Aussage gilt als glaubwürdig.
Was ist mit der Riesenmenge an Datenträgern, die auf dem Campingplatz gefunden wurden?
Ralf Vetter: Davon ist nur ein ganz geringer Teil kinderpornografisches Material. Das meiste sind PC-Programme, Spiele und „normales" Filmmaterial etwa von Ausflügen mit Kindern. Die vielen kinderpornografischen Dateien nehmen im Verhältnis dazu nur einen geringen Teil des Datenvolumens ein. Bei dem dritten Beschuldigten aus Stade wurde kein Material gefunden, das in Lügde gefilmt und hergestellt worden sein könnte.
Was war auf den Disketten und CDs, die beim Abriss von Andreas V.s Behausung gefunden wurden?
Ralf Vetter: Wir gehen davon aus, dass sich diese in einem nicht zugänglichem Hohlraum befanden, da zuvor ja sowohl die Polizei, als auch der Abrissunternehmer alles herausgeräumt hatten. Dieses Material ist für die Beweisführung aus mehreren Gründen nicht relevant: Die Datenträger waren defekt. Sie wurden, wenn sie überhaupt dem Angeschuldigten Andreas V. zuzuordnen sind, von diesem bestimmt nicht versteckt, sondern wahrscheinlich entsorgt oder vergessen.
Gab es irgendetwas auffälliges?
Ralf Vetter: Es handelte sich um ältere, nicht mehr gebräuchliche Datenträger. Das, was die IT-Spezialisten noch rekonstruieren konnten, war uralt und auch von der Anzahl völlig unerheblich. Der mediale Wirbel darum steht in keinem Verhältnis zur Bedeutung. Selbst wenn die Dateien dort versteckt worden wären, was ich für völlig unwahrscheinlich halte, sehe ich den Umstand, dass sie bei der Durchsuchung nicht gefunden wurden, nicht als Fehler der Polizei an.
Gibt es Hinweise, dass Andreas V. mit Kinderpornos gehandelt hat?
Ralf Vetter: Bisher nicht, aber ich kann es auch nicht ausschließen. In Kinderpornoforen hat er 2008 Heiko V. aus Stade kennengelernt, ob da Gelder geflossen sind, wissen wir nicht. Das lässt sich auch nach mehr als zehn Jahren nur schwer rekonstruieren, belastendes Material könnte längst gelöscht und Datenträger entsorgt worden sein.
Haben sich die drei Beschuldigten in ihrer Untersuchungshaft zu den Vorwürfen geäußert?
Ralf Vetter: Heiko V. hat von Anfang an die Taten, die er mit Hilfe von Andreas V. via Internetchat begangen hat, eingeräumt. Andreas V. hat uns über seinen Anwalt die Namen von weiteren Personen genannt, gegen die nun ermittelt wird. Von seinem Mittäter, dem 34-Jährigen Mario S., haben wir bisher keine Aussage. Natürlich würden wir es begrüßen, wenn die Beschuldigten die Taten einräumen, das würde vielen Opfern wahrscheinlich eine detaillierte Aussage vor Gericht ersparen. Und es wäre das einzige, was sich strafmildernd auswirken würde.
Andreas V. soll auch gegen Mario S. ausgesagt haben?
Ralf Vetter: Es gab Aussagen von Andreas V., die vor allem andere Beschuldigte und Mitangeklagte betrafen.
Um den Missbrauchsfall gab es von Anfang an viel politischen Wirbel – vor allem durch NRW-Innenminister Herbert Reul, der die Ermittlungspannen scharf kritisierte. Hat Sie das unter Druck gesetzt?
Ralf Vetter: Wir haben uns eher von den Medien getrieben gefühlt. Und: Herbert Reul ist Politiker, ich bin Jurist.
Das heißt?
Ralf Vetter: Wir haben keine Meinungsverschiedenheiten, sondern verschiedene Sichtweisen auf den Fall. Einen persönlichen Kontakt gab es bisher nie. Ich bin Herrn Reul dankbar, dass er immer mehr Polizeibeamte zur Verfügung gestellt hat. Das Innenministerium führt nicht die Ermittlungen, sondern die Staatsanwaltschaft.
Die ermittelt ja auch gegen das Jugendamt und gegen Polizeibeamte, die Informationen vertuscht oder nicht rechtzeitig weitergegeben geben haben sollen, was ist daraus geworden?
Ralf Vetter: Die Ermittlungen laufen noch.
Es wurden Unterlagen verfälscht und Asservate verschlampt – hätten Sie das alles vor Lügde für möglich gehalten?
Ralf Vetter: Es kam in diesem Fall viel zusammen. Aber so etwas kommt vor, überall arbeiten Menschen und die machen eben auch Fehler und versuchen in Notsituationen ihre eigene Haut zu retten.
Jahrzehntelang sollen Andreas V. und Mario S. Kinder missbraucht haben und niemand will etwas gesehen oder gemerkt haben – wie konnte das so lange unentdeckt bleiben?
Ralf Vetter: Ich weiß nicht, ob die Leute die Augen verschlossen haben. Vor allem Andreas V. war beliebt, sozial intelligent und hat viel mit den Kindern unternommen. Und wenn die Behörden Warnungen zuvor ernster genommen hätten, dann wären beide wahrscheinlich schon vorher verhaftet worden.
Können Sie nachvollziehen, dass das Vertrauen in die Behörden bröckelt?
Ralf Vetter: Das kann ich auf jeden Fall, aber es sind und bleiben Einzelfälle.
Die beiden Hauptverdächtigen waren auch nicht einschlägig vorbestraft.
Ralf Vetter: Nein, waren sie nicht. Sie müssen ein Schweige-System entwickelt haben, das den Kindern Angst gemacht hat. Daran haben sich alle Opfer bis Dezember 2018 gehalten, dann kam es zur Anzeige.
Es gab in der Vergangenheit immer wieder Ermittlungsverfahren gegen Andreas V. und auch Mario S. wegen des Verdachts auf sexuellen Missbrauch, die dann von den zuständigen Staatsanwaltschaften eingestellt wurden...
Ralf Vetter: Es kann sein, dass es solche Ermittlungen gab, die dann eingestellt wurden. Aber nicht hier in Detmold.
Sie waren ja auch persönlich am Tatort – welche Gedanken sind Ihnen dort durch den Kopf geschossen?
Ralf Vetter: Ich mache mir immer gerne persönlich ein Bild vom Tatort. In diesem Fall war alles sehr verdreckt, vermüllt und überall roch es streng. Ich dachte mir, das ist kein Ort, wo ein achtjähriges Kind aufwachsen sollte.
Der Prozess soll ja nun am 27. Juni beginnen und nur rund drei Monate dauern, ist das realistisch?
Ralf Vetter: Es sind zwei Verhandlungstage pro Woche angesetzt, drei Monate mit 25 Verhandlungstagen könnten ausreichen. Mit Prozessbeginn sind die Ermittlungen aber noch lange nicht abgeschlossen, wir haben immer noch eine Unmenge an Spuren und Hinweise auf mögliche weitere Taten und Tatorte.
Wie geht es damit theoretisch weiter?
Ralf Vetter: Es könnte zu einem zweiten Prozess kommen. Oder die aktuelle Anklage könnte erweitert und der erste Prozess verlängert werden.
Welches Strafmaß wird die Staatsanwaltschaft gegen die beiden Hauptbeschuldigten beantragen?
Ralf Vetter: Für die meisten Taten sieht das Gesetz eine Einzelstrafe von zwei Jahren vor – und diese Männer haben mehr als 450 Taten begangen. Ich denke, dass sich der Antrag der Staatsanwaltschaft in Richtung der gesetzlichen Höchststrafe bewegen wird. Die beträgt 15 Jahre. Im Raum steht auch eine anschließende Sicherungsverwahrung.
INFORMATION
Zur Person
Oberstaatsanwalt Ralf Vetter ist 59 Jahre alt und seit 2009 in Detmold tätig. Studiert hat er in Münster. Zunächst wollte er Steuerberater werden, hat sich dann aber doch für Jura entschieden. 1990 wurde er schließlich Staatsanwalt und arbeitete zunächst ein Jahr in Dortmund. Danach wechselte er nach Paderborn, wo er von 1991 bis 2009 war. Er ist großer Fan von Helene Fischer und Borussia Dortmund.