
Scherfede. Vater, Mutter, Kind. Das Urbild der Familie. Josef, Maria und das Kind in der Krippe. Das Urbild der christlichen Weihnacht. Und in der Corona-Pandemie so in den Mittelpunkt gerückt. Den Begriff der Familie umgibt eine seltsame Aura. Denn er legt in der kalten Jahreszeit Gefühle wie Geborgenheit und Beständigkeit frei. Barmherzig und unbarmherzig. Die Sehnsucht nach Halt in der Familie scheint in der Krise gewachsen zu sein. „Familie steht für dauerhafte Beziehungen", sagt Birgit Henze, Leiterin des Familienzentrums St. Vincentius in Scherfede. Und Weihnachten sei das Fest der Familie. Der bürgerlichen, wie der heiligen, möchte man hinzufügen.
Wer an den Weihnachtstagen über die Scherfeder Schulstraße spazieren geht, sollte die Gelegenheit nutzen, am Familienzentrum die Treppen zum kleinen Platz vor dem Eingang hinunterzuschreiten. Rund 50 Krippen warten entlang der gut sieben Meter langen Fensterfront darauf, entdeckt zu werden. Manche der Figuren sind weit weniger als fingernagelgroß. Andere ausgesägt aus einem halben Meter Fichtenbrett. „Wir haben nicht gedacht, so viele Krippen auf so wenig Platz unterzubringen", sagt Henze. Doch die filigranen Exponate aus der Sammlung von Maria Thonemann machen es möglich.
"Hochachtung vor dem Leben"
Seit drei Jahrzehnten trägt sie die Scherfeder Erzieherin und Sprachpädagogin liebevoll zusammen. Von den Puppen aus Maisstroh aus der Slowakei über Darstellungen aus Afrika oder der russisch-orthodoxen Kirche bis zur Abbildung des Geschehens nach der Herbergssuche im Stall zu Bethlehem in der Streichholzschachtel oder in der Schale einer Jakobsmuschel. Auf Holzbänken stehend werden Kinder, die Taschenlampe in der Hand, in der Dämmerung der Weihnachtstage die Hirtenidylle beleuchten und vieles rund um die Erzählung aus der Bibel entdecken können.
Die 61-Jährige möchte etwas von der Faszination der Krippen weitergeben, sagt sie. Die Geschichte von der Geburt Jesu als Miniaturausgabe sei für ihre beiden Kinder und jetzt auch für den Enkel immer etwas besonderes gewesen. Der ist zweieinhalb und auch die 81 Kinder in den vier Gruppen der Kita haben sich mit der Krippe beschäftigt. Den jungen Menschen werde „die Hochachtung vor dem Leben" deutlich, ist Thonemann überzeugt. Die szenische Darstellung von Vater, Mutter, Kind spiegele die Situation wieder, in der Kinder ihre Welt sehen und zeige ihnen „die Freude am Kind".
„Der leibliche und der neue"
Das Urbild der Familie trage jedes Kind in sich, sagt Birgit Henze. „Kinder spielen mit Vorliebe Vater, Mutter, Kind, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet", berichtet sie. „Sie wissen, dass es Mama und Papa gibt, auch wenn einer im Alltag fehlt." Manchmal seien es aber auch zwei Papas. „Der leibliche und der neue." Im Spiel tauche er oder die neue Mutter mit Sicherheit irgendwann in irgendeiner Form auf. Kinder passen ihre Rollen ihrer individuellen Situation an. „Im Spiel kommt schlicht die Suche nach dem Urvertrauen zum Ausdruck. Ich muss wissen, wohin ich gehöre, wissen, wo meine Wurzeln sind", erklärt die Erzieherin.
Das klassische Rollenbild wandele sich: Die Mutter sei nicht mehr für das Essen zuständig, „wenn beide Elternteile einem Job nachgehen". Dann bringen die Kinder die Puppe oder den Teddy in die Kita mit dem Satz „Mama und Papa gehen jetzt arbeiten". Die Trennungsszene wird nachgespielt. „Jedes Kind braucht die Sicherheit, dass es wieder nach Hause geht", hält Henze fest.
"Das menschliche Urbedürfnis nach Liebe, die verbindet"
„Wenn sie in die Eltern- oder Kindsrolle schlüpfen, verarbeiten sie Erfahrungen, die sie in der Familie erlebt haben", sagt Henze. Positives und Negatives. Doch nicht nur der Streit, auch banal Alltägliches wird einbezogen. Dabei werden die jungen Spieler äußerst kreativ, wie Henze im Beispiel berichtet: Mit einem Klettverschluss über das Gesicht zu ratschen, könne eine Erzieherin zunächst schon erschrecken. Um eine Rasur nachzumachen, wie ihr das Mädchen aber auf Nachfrage erklärt habe, sei das sicherlich okay.
Um das Erlebte zu verarbeiten, veränderten Kinder in der Fantasie Unangenehmes derart, „dass es mir gut dabei geht". Fürsorge und Geborgenheit, das Gefühl von Zugehörigkeit und des Angenommenseins werde im Rollenspiel nachempfunden. „Das menschliche Urbedürfnis nach Liebe, die verbindet", sagt Henze. Wichtig sei, dass Liebe in der Beziehung gelebt werde. „Du kannst zehn Mal sagen, ich hab’ dich lieb, wenn Kinder nicht spüren, bedingungslos geliebt zu werden, bleiben ihnen nur leere Worte".
Schleier der permanenten Angst
Im Vergleich zu früheren Zeiten sei die Erziehung heute „arg verkopft". In jungen Familien werde eher darüber nachgedacht, was alles in Zukunft passieren könne, „als den den Moment zu leben". Den Moment beherrscht seit Monaten aber auch das Coronavirus, das auch Kinderseelen belastet. „Äußerlich ertragen sie die Situation recht gut", sagt Henze. Doch was die andauernde Vorsicht, den Menschen nicht zu nahe zu kommen, mit den Kindern mache, frage sie sich schon. Denn die Kinder wüchsen in dieser neuen Realität auf. Selbst dem Nikolaus, der sie in der Einrichtung besucht hatte, „zeigten sie, wie er sich die Hände zu waschen habe", bemerkt Henze.
Sie spricht von einem „Schleier der permanenten Angst, sich anzustecken" und befürchtet, dass Ängste entstehen könnten, weil für die älter werdenden Kinder nicht absehbar sei, ob sie in ihren vormals gewohnten Alltag zurückkehren könnten. Auch vor diesem Hintergrund übernehme die Familie eine prägende Funktion: „In der Kita kommen viele unterschiedliche Ansichten zusammen", sagt Henze. Die Einen befolgen die Schutzmaßnahmen peinlichst genau, andere nehmen es eher locker. „Beides tragen die Kinder in die Gemeinschaftseinrichtungen", sagt Henze.
Die Krippe, „eine Darstellung ohne Brimborium", sagt Thonemann. Sie sei ein Zeichen, dass auch ein einfaches Leben, das sich auf das Wesentliche konzentriere, ein glückliches sei. „Meine Eltern schenken mir zu allen Zeiten Liebe. Das strahlen die Krippen aus."
INFORMATION
"Vater der Krippen"
Franziskus von Assisi wird oft als „Vater der Krippe" angesehen. Im Jahr 1223 hatte der Heilige die erste Weihnachtskrippe in der bekannten Form gebaut. Er zog damals aus dem Kloster zu einer Futterkrippe in einer Waldhöhle aus, an der ein lebendiger Ochse und ein Esel standen. Die Heilige Familie war noch nicht zugegen. Vor einer großen Menschenmenge, die meisten des Lesens unkundig, erzählte Franziskus dann von Maria und Josef und ihrem Erstgeborenen.