Bünde. Eines schönen Tages lief ich aufgeregt und stolz zu meiner Mutter in die Küche und erzählte ihr, dass ich eine tote Katze gefunden hätte. Die Begeisterung hielt sich in eher überschaubaren Grenzen. Ich hätte sie sogar mitgebracht. Dass ich nun etwas mehr Aufmerksamkeit bekam, bemerkte ich daran, dass sie von Kartoffelschälen aufblickte.
Wo sie denn jetzt sei, wollte sie wissen. Ich sagte ihr, dass ich sie in die Garage gelegt hätte. Sie wiederum erklärte mir daraufhin, dass diese tote Katze sofort (!) aus der Garage verschwinden würde. Wohin sagte sie nicht. Wo ich dieses Tier überhaupt her hätte? „Von der Autobahn", sagte ich. Ihren Gesichtsausdruck habe ich vergessen, aber an das (lange) Gespräch darüber, ob Kinder etwas auf der Autobahn zu suchen hätten, das nicht. Und tote Katzen gehörten auch nicht dazu, wie ich lernte.
In der Tat war ich hinter den Häusern am offenen Kanal entlang gelaufen und dort, wo die A30 die Schloßstraße auf einer Brücke kreuzt, führte seitlich eine Treppe nach oben. Allein Schilder halten ein neugieriges Kind nicht auf. Was macht man bei schönem Wetter, wenn man kein Handy, keinen Computer, nur drei langweilige Fernsehprogramme und noch nicht einmal eine Spielekonsole hat? Man geht raus, auch unbeaufsichtigt. Heute wäre das undenkbar. Vernachlässigung der Aufsichtspflicht. Wenn das Kind in seinem Zimmer vor dem Computer sitzt, weiß man wenigstens, wo es ist. Stimmt ja auch. Aber ich hätte nicht getauscht haben wollen. Denn das bot auch Chancen.
Telefonzellen an jeder Ecke
So zog ich alleine oder mit meinen Freunden umher durch Bünde. Meistens hatten wir keinen Ausweis, keinen Impfpass, ja nicht einmal 20 Pfennig für ein Notfall-Gespräch aus einer Telefon-Zelle dabei. Es gab wohl die Angst, wir hätten die Groschen in Süßigkeiten verwandelt, was wohl auch richtig war.
Ein Anruf bei der 110 war auch aus Telefonzellen immer kostenlos. Die meisten hatten noch nicht einmal einen eigenen Haustürschlüssel und mussten klingeln, wenn sie nach Hause kamen. Die einen Schlüssel hatten, wurden als „Schlüsselkinder" gehänselt, weil nach der Schule kein Elternteil auf sie wartete, da sie beide arbeiten mussten. Das galt tatsächlich einmal als sozial schwach. Diese Kinder mussten sich selbst etwas zu Essen machen. Das galt als Schande. Auch war es ein beliebtes Argument meiner Eltern: „Sei mal froh, dass Du kein Schlüsselkind bist."
Es ist schon erstaunlich, wie viele Zäune Löcher haben, wie viele Wege gar nicht ausgeschildert sind, wie leicht Buschwerk durch sanfte Gewalt Zugänge gewährt. Grafikkartenanimierte Ritter und Drachen und blaue Daumen, die nach oben zeigen, suchten und sahen wir nie. Aber wir fanden Abenteuer. Wir fanden ein altes Gefängnis in der Pauluskirche, Patronenhülsen am Stadtgarten, noch ganz hübsche Blumen auf den Komposthalden der Friedhöfe, alte Gemäuer in den Wäldern, Flusskrebse an der Else, und Hundekot im Herbstlaub.
Wir ließen Pfennige auf den Gleisanlagen vom D-Zug nach Hannover plätten und kletterten im Doberg die steilsten Wände hinauf. Wer traut sich? Wir folgten einem alten Mann, der Dinge von der Straße aufhob und machten ihn in unserer Phantasie zum geizigen Millionär. Er war stadtbekannt und hatte überall einen anderen Namen. Für uns hieß er „Heinrich von Horn" und er führte uns, während wir ihn hinter Mauern, Bäumen und Straßenecken verfolgten, in Gegenden, in denen keiner von uns wohnte.
Die Stadt auf eigene Weise entdeckt
Auf diese Weise haben wir „unsere Stadt" entdeckt. Und noch heute glaube ich, Orte und Wege zu kennen, von denen derjenige keine Ahnung hat, der weiß, wo sich beim Online-Rollenspiel das Schloss befindet oder den virtuellen Helikopter so fliegen kann wie seine Eltern. Ja, es war auch eine gefährliche Stadt, mit Katzen auf der Autobahn. Aber, wenn man in diesen Pfingst-Tagen so will, hat Bünde, beinahe wie ein Heiliger Geist, ja immer gut auf mich aufgepasst.