Bünde

Nach vielen Jahren zurück in die Heimat: Bünde klingt jetzt anders

Erinnerungen an altes Else-Wasser (1): Wer einen Ort mit allen Sinnen wahrnehmen will, muss auch lernen, auf ihn zu hören, sagt unser Autor Nicolas Bröggelwirth.

05.04.2021 | 23.04.2021, 18:05
Könnte August Steinmeister reden, würde er sicher noch einiges mehr über die Geräusche einer Stadt zu erzählen haben. Foto: Nicolas Bröggelwirth - © Nicolas Bröggelwirth
Könnte August Steinmeister reden, würde er sicher noch einiges mehr über die Geräusche einer Stadt zu erzählen haben. Foto: Nicolas Bröggelwirth | © Nicolas Bröggelwirth

Stellen Sie sich vor, Sie kämen nach 20 oder 30 Jahren wieder zurück in die Stadt, in der Sie aufgewachsen sind. Bereits viele Autobahnausfahrten oder einige Bahnstationen zuvor erkennen Sie an den Bergen und Bäumen die Gegend Ihrer Heimat wieder. In der Stadt erinnern Sie sich an fast jede Straßenecke, jeden Baum und jedes Gebäude. Sie verbinden Erlebnisse und Menschen mit ihnen. Die Erinnerungen haben Sie damals mitgenommen und einige von ihnen doch hier gelassen.

Warum sieht der Schulhof heute so klein aus?

Doch einen Moment! Auf jedem neuen Weg, mit jedem weiteren Tag fällt Ihnen weniger auf, was Sie noch von früher kennen. Es fallen Ihnen hingegen mehr und mehr die Veränderungen auf, über die man Sie überhaupt nicht informiert hat, seitdem Sie damals wegzogen.

Die Parkbank, auf der Sie Ihren ersten Freund oder erste Freundin küssten, gibt es nicht mehr. Das Geschäft, in dem Sie früher mit Ihrer Mutter Schuhe kaufen mussten(!), beherbergt heute einen Umschlagplatz für E-Zigaretten. Warum sieht der Schulhof heute so klein aus? Und wo ist eigentlich das Klettergerüst, dieses tolle Klettergerüst vom Spielplatz hin?

Worum es in dieser Serie geht

Diese kleine Serie erzählt von einem Menschen, dem es genauso erging. Vor langer Zeit verließ er diese Stadt, und ob er für einige Stunden oder für immer wiederkehrte, spielt überhaupt keine Rolle. Hier finden Sie Geschichten, Erzählungen und Anekdoten aus den Zeiten, als Bünde noch ein anderes und doch dasselbe Bünde war. Einiges davon mögen Sie genauso erlebt haben, einiges ganz anders. Sehen Sie es dem Autor nach, falls seine Erinnerungen nicht die Ihren sind. Eines nämlich bleibt ganz gewiss: Man kann nicht von der Vergangenheit erzählen, ohne die Gegenwart zu beschreiben.

Die erste Reise in frühere Zeiten führt uns an keinen speziellen Ort. Doch man bemerkt es sofort. Irgendetwas ist anders, was man aber nicht sehen kann. Sehr plötzlich wird man gewahr: Die Stadt hört sich ganz anders an als damals. Bündes Klang ist leiser, aber dichter geworden. Der Sound ist nicht mehr so differenziert. Es ist, als sei Musikproduzent Phil Spector durch die Stadt gefahren und hätte an den neuronalen Knoten ihre Frequenzen angepasst. Die Amplitude ist kleiner geworden, die Instrumente sind nach modernen Hörgewohnheiten abgemischt.

In den verkehrsberuhigten Bereichen fahren andere Autos nun rücksichtsloser. Als Kind lernte ich meine ersten Tierlaute. Ein Hund macht „Wau", eine Katze „Miau" und eine Taube gurrt. Wo sind die vielen Tauben hin? Oftmals hört man heute das Krächzen der Raben, Krähen und Dohlen.

An schönen Sommertagen drang das Geschrei und Gelächter der Menschen im fast überfüllten Freibad bis in unseren Garten und weit bis in die Innenstadt. Oftmals gab es einen Probealarm, und einst fragte ich meinen Vater, woher man wisse, ob es ein Probealarm oder ein echter Alarm sei. Das wisse man von der Uhrzeit, erklärte er mir. „Und wenn es ein echter Alarm ist?" – „Dann müssen wir sofort ins Haus und das Radio anmachen." Zu diesen Zeiten donnerten oft noch Tiefflieger über das Weserbergland, und es war an diesem Ort, an dem mein Vater mir erklärte, wie der laute Knall bei einem Überschallflugzeug zustande kommt.

Kaum noch bellende Hunde

Die Glocken der Kirchen erklingen jetzt seltener, doch Sonntagmorgens wacht man noch in seiner Kindheit auf. Vom Beton und Asphalt her hallen die tiefen Töne durch die spärlicher geworden Baumkronen wider, deren Blätter vom Überschuss der Geräusche satt zu sein scheinen. Bellende Hunde sind aus der Mode gekommen. Man hat sie erzogen, als ob jeder Mensch Angst vor der Meinung eines Vierbeiners haben müsste. Ja, man hört es: Viele Vögel sind aus der Innenstadt weggezogen. Vermutlich ist ihnen hier alles zu hektisch geworden und sie genießen im Alter die Ruhe auf dem Land. Inmitten der Stadt zu leben – das ist doch was für die Jüngeren.

Doch wenn man ganz leise ist, sich ganz doll konzentriert, hört man an einem lauen Sommerabend hinter dem Gurren einer Taube das Rauschen des letzten, späten Güterzuges, der von Amsterdam nach Warschau fährt. Und man weiß: Morgen wird ein schöner Tag in Bünde.