OWL Crime – mit Podcast

Erschütterung in Bielefeld: Sexueller Missbrauch unter den Augen der Kirche

Es dauerte lange, bis klar wurde, dass der Jugenddiakon ein Verbrechen an Schutzbefohlenen begangen hatte. Obwohl die Kirche sofort aktiv wird, gerät auch sie schwer in die Kritik.

Wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen wurde der ehemalige Jugenddiakon (hier mit seinem Anwalt Carsten Ernst, l.) der Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde verurteilt. | © Andreas Zobe

18.09.2025 | 18.09.2025, 02:00

Bielefeld. Naturerleben, Körperlichkeit und Kirche – dieser sehr fortschrittliche Ansatz in der kirchlichen Jugendarbeit in der Bielefelder Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde hatte eine besondere Strahlkraft über die Grenzen der Stadt hinaus. Aber die strahlende Fassade der Gemeinde verbarg tiefe Abgründe.

Der damals verantwortliche Jugenddiakon hatte im Alter von 28 Jahren und aufwärts ganz neue Wege in der Arbeit mit den Jugendlichen beschritten und war bei ihnen für seinen lockeren Umgang angesehen. Viele der jungen Leute sahen in ihm ein Vorbild, die Eltern lobten seine Konzepte. Doch sein Ansehen ging plötzlich in die Brüche, als einzelne Jugendliche im Sommer 2021 seine Arbeit als Teil einer lang angelegten Masche offenlegten. Plötzlich war von sexuellem Missbrauch die Rede.

In der neuen Folge von „OstwestFälle“, dem True-Crime-Podcast der „Neuen Westfälischen“, spricht Moderatorin Birgitt Gottwald mit NW-Redakteur Jens Reichenbach über den jahrelangen Missbrauch von Jugendlichen in der Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde in Bielefeld.

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Sexueller Missbrauch in der Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde in Bielefeld – der Fall im Überblick:

  • Der damalige Jungdiakon wird im Sommer 2021 von einem seiner früheren Opfer angezeigt.
  • Zwischen den Jahren 2005 bis 2011 sollen die Missbrauchsfälle stattgefunden haben.
  • Die Kirchenverantwortlichen haben von den Fällen nichts gewusst und den Jungdiakon fristlos gekündigt.
  • Es hat damals mit ausgewählten Jugendgruppen in einem „Inner Circle“ gegenseitige Massagen, gemeinsame Saunagänge und Nackttreffen gegeben.
  • Am Ende des Prozesses gesteht der Jugenddiakon den jahrelangen Missbrauch in der Hoffnung, dadurch eine Haftstrafe zu umgehen.
  • Das Gericht verurteilt den Ex-Mitarbeiter des Evangelischen Kirchenkreises zu einem Jahr und elf Monaten Haft auf Bewährung und einer Geldauflage von 6.000 Euro.

Missbrauchsfälle in der Bielefelder Gemeinde fielen erst im Sommer 2021 auf

Im Sommer 2021 zeigte einer der Jugendlichen von damals (es geht um die Jahre 2005 bis 2011) den Jugenddiakon an. Er schilderte Kirchenverantwortlichen, dass er erst als Erwachsener in einem Fortbildungsseminar zum Thema „sexualisierte Gewalt“ endgültig bemerkt habe, dass er damals Opfer eines Verbrechens geworden war. Die Kirche nahm die Schilderung dieses „Ehemaligen“ sehr ernst, erstattete Anzeige bei der Polizei, kündigte schon kurz nach den ersten Befragungen dem Mitarbeiter fristlos und informierte die Öffentlichkeit. Verantwortliche des evangelischen Kirchenkreises sprachen von einem „Schock“ und der Sorge, dass von Verantwortlichen Warnhinweise übersehen worden sein könnten.

Die Staatsanwaltschaft sprach damals vom Verdacht des „sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen“, nahm die Ermittlungen auf und ließ die Wohnung des Bielefelders durchsuchen. Doch danach passierte zunächst wenig – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung. Erst eineinhalb Jahre später – im Januar 2023 – wird der Fall wieder öffentlich. Es haben sich inzwischen weitere Betroffene zu Wort gemeldet. Doch weder die Kirche noch die Ermittlungsbehörden melden sich zu Wort.

Offener Brief der Betroffenen zwingt Bielefelder Kirche zum Handeln

Erst ein offener Brief von mehreren Betroffenen löst im Januar 2023 die nächste Debatte über die Nackttreffen in der evangelischen Jugendarbeit aus. Die Betroffenen werfen der Kirche vor, eine Jugendarbeit unterstützt und genehmigt zu haben, die sexuelle Übergriffe gefördert habe. Bei der üblichen Jugendarbeit und auf Jugendfreizeiten ist von gegenseitigen Massagen, gemeinsamen Saunagängen im eigens ausgebauten Saunawagen und Nackttreffen die Rede. Was offiziell das Ziel „Körperlichkeit annehmen und erleben“ zum Ziel hatte, führte bei privateren Gelegenheiten zu mehreren Grenzüberschreitungen. Eines der Opfer sprach davon, völlig überrumpelt gewesen zu sein, als der Jugenddiakon die männlichen Jugendlichen an den Genitalien anfasste.

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Die Staatsanwaltschaft spricht später von privaten Treffen in einem „Inner Circle“. Dieser besonderen, vom Jugendbetreuer bestimmten Gruppe gehörten nur ausgesuchte männliche Teenager an, die anderen blieben außen vor. Und genau in diesem Kreis ging es dann mehr als sonst um Sexualität, verbal, aber auch körperlich ging es dabei zur Sache.

Durch den Druck, den der offene Brief auf die Kirchenkreis-Verantwortlichen ausübt, geht Superintendent Christian Bald an die Öffentlichkeit. Er entschuldigt sich, weil „nicht genau hingeschaut wurde“ und der pädagogische Ansatz einer „offenen Form der Jugendarbeit offensichtlich vom Täter ausgenutzt“ wurde. Obwohl die Kirchenleitung eigentlich das Ermittlungsergebnis der Staatsanwaltschaft abwarten wollte, lädt sie Anfang 2023 zu einem Info-Abend zu den Vorkommnissen in der Gemeinde ein.

Streit um einen Saunawagen für die kirchliche Jugendarbeit in Bielefeld

Mehr als 90 Teilnehmer stellen zahlreiche Fragen. Erstmals wird öffentlich, dass es in manchen Kirchengremien durchaus Gegner des Saunakonzepts rund um die gelebte Nacktheit mit Erwachsenen und Jugendlichen gab. Damals konnte sich diese Kritiker nicht durchsetzen. Heute erteilt Christian Bald der Frage nach dem Sinn eines Saunawagens innerhalb der kirchlichen Jugendarbeit eindeutig eine Absage.

Lesen Sie dazu: Verstörende Details: Bielefelder Kirchenkreis für „nackte“ Jugendarbeit in der Kritik

In dieser Phase kommt es zu Grabenkämpfen innerhalb der Gemeinde. Es gibt diejenigen, die den sexuellen Missbrauch öffentlich gemacht haben, und diejenigen, die immer noch zu dem ehemaligen Diakon stehen. In beiden Fällen sind es in erster Linie ehemalige Schutzbefohlene und deren Eltern. Erstere werden als Denunzianten und Nestbeschmutzer beschimpft, letztere als Beschützer eines Straftäters. Über der Gemeinde liegt über Jahre ein dunkler Schatten, wie es ein Gemeindemitglied damals beschreibt.

Anklage lässt Unterstützerfront des Bielefelders bröckeln

Dieser Krieg der beiden Lager dauert an, bis die Staatsanwaltschaft im Oktober 2024 schließlich Anklage gegen den Diakon und Sozialpädagogen erhebt. Die Ermittler werfen ihm „sexuellen Missbrauch Schutzbefohlener“, „sexuellen Missbrauch Jugendlicher“ und den „Besitz jugendpornografischer Bilder“ vor. Bei den Bildern handelt es sich tatsächlich auch um Fotos seiner Jugendlichen, die er in sexuell konnotierten Posen abgelichtet hat. Als die Anklagevorwürfe publik werden, bröckelt die Unterstützerfront. Immer mehr Freunde und Verehrer des Jugenddiakons wenden sich von ihm ab.

Die Anklage: Nackttreffen mit Jugendlichen? Bielefelder Kirchenmitarbeiter angeklagt

Die Anklage findet am Ende fünf bis acht Jugendliche, die der Angeklagte in sexueller Absicht angefasst haben soll. Bei drei Opfern im Alter von 14 bis 17 Jahren sind die Beweise und Aussagen so konkret, dass ihre Aussagen für die Anklage grundlegend werden. Weitere Betroffenenberichte aus den späteren Jahren – also nach 2011 – werden nicht mehr herangezogen. Der Superintendent sagt nun über die Schutzmechanismen in der Gemeinde: „Der Täter hat die damaligen Strukturen des Kirchenkreises ausgenutzt.“ Mehr und mehr wird klar, dass sein fortschrittliches Jugendkonzept Teil eines langangelegten, kriminellen Plans war.

Kritiker werfen Bielefelder Kirche Behinderung der Aufklärungsarbeit vor

Die Betroffenen legen nun beim Kirchenkreis immer wieder die Finger in offene Wunden. Sie werfen der Kirche strukturelles Versagen während der Taten vor und sprechen von Behinderung bei der Aufklärungsarbeit nachher. Eine gemeinsam beschlossene Studie zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der Vorfälle wird von der Kirchenleitung kurz vor der Vertragsunterschrift gestoppt. Kirchenchef Bald glaubte, das Institut habe nicht wissenschaftlich gearbeitet und Betroffene unsensibel interviewt, und er entzieht dem Institut wieder den Auftrag.

Christian Bald, Superintendent des Kirchenkreises Bielefeld, hörte sich das Verfahren persönlich im Amtsgericht an. - © Andreas Zobe
Christian Bald, Superintendent des Kirchenkreises Bielefeld, hörte sich das Verfahren persönlich im Amtsgericht an. | © Andreas Zobe

Die Betroffenen sprechen von „Respektlosigkeit“, weil sie über diese Entscheidung nicht informiert wurden, und glauben, dass er gerade noch eine zu kirchenkritische Studie verhindern wollte. Denn im Nachhinein stellen sich Balds Vorwürfe als gegenstandslos heraus. Der Superintendent entschuldigt sich auch für das Missverständnis und seine falsche Einordnung. Im März 2025 beauftragt der Kirchenkreis nun doch noch eine Studie, die nun mit der Aufarbeitung der Zeit zwischen 2000 und 2021 mit Aktenstudium und Interviews beginnen soll.

Nach dem Geständnis sagt er: „Stehe dazu, was ich gemacht habe.“

Im Juni 2025 brachte aber zunächst noch der Prozess gegen den Jugenddiakon endlich juristische Klarheit über die Taten des inzwischen 51-jährigen Bielefelders, und der Prozess vor dem Jugendschöffengericht ist schneller vorbei als gedacht. Strafverteidiger Carsten Ernst klopft in einem Rechtsgespräch die Chancen seines Mandanten ab, sollte er ein Geständnis ablegen. Staatsanwaltschaft und Kammer geben ihm zu verstehen, dass der nichtvorbestrafte Mann damit einer Zeit in einer Gefängniszelle entgehen könnte. Und so verliest sein Anwalt kurz darauf ein umfassendes Geständnis, in dem von Fehleinschätzungen und Grenzüberschreitungen die Rede ist. Weiter geht er dabei nicht ins Detail. Ganz persönlich sagt der 51-Jährige: „Ich stehe dazu, was ich gemacht habe.“

Der Angeklagte legte ein Geständnis ab und sagte: „Ich stehe dazu, was ich gemacht habe.“ - © Andreas Zobe
Der Angeklagte legte ein Geständnis ab und sagte: „Ich stehe dazu, was ich gemacht habe.“ | © Andreas Zobe

Das Schöffengericht unter dem Vorsitz von Richter Lars Herzog verurteilt den Ex-Mitarbeiter des Evangelischen Kirchenkreises zu einem Jahr und elf Monaten Haft auf Bewährung. Zusätzlich muss er 6.000 Euro als Geldauflage an eine gemeinnützige Organisation bezahlen.

Das Urteil: Bielefelder Ex-Diakon gesteht sexuellen Missbrauch – erstmals berichtet ein Opfer

Zwei seiner Opfer bestehen darauf, noch ihre Aussage zu machen, auch wenn es angesichts des Geständnisses nicht mehr notwendig sei. Er sei damals völlig überrumpelt und konsterniert gewesen, sagte ein Opfer, habe dem Diakon nichts entgegenzusetzen gehabt. Und schließlich sagt er unter dem Applaus der Zuhörer: „Ich bin es leid, mich zu schämen.“ Dass die Kirche vieles in dem Fall ignoriert und heruntergespielt habe, habe sich „beschissen angefühlt“. Schließlich resümiert ein Sprecher der Betroffenen: „Wir haben lange gekämpft. Jetzt haben wir gewonnen.“ Der Missbrauch sei vom Gericht anerkannt worden. Das führe nun zu Erleichterung und auch Genugtuung.

Handeln war absichtsvoll, systematisch und vom sexuellen Lustgewinn geleitet

Gleichwohl sprachen viele Prozessbeobachter von einem Geständnis ohne Reue. Das Geständnis sei nicht von einem Wiedergutmachungsgedanken geleitet gewesen, sondern von Schadensabwehr. Ein Prozessbeobachter schrieb später zu diesem Prozess: „Als junge Erwachsene mussten sie feststellen, dass das Handeln des Diakons absichtsvoll und systematisch von seinem Streben nach sexuellem persönlichen Lustgewinn geleitet war. Da zerbricht Vertrauen, da werden Dinge, die als fröhlich und heiter erlebt wurden, im Nachhinein düster und bedrohlich. Da wurde der kostbare Raum erster zarter Beziehungs- und sexueller Erfahrungen von einem berechnenden Erwachsenen missbraucht und beschädigt.“

Die Einschätzung: Täter ohne Reue? Offene Fragen nach Missbrauchsurteil gegen Bielefelder Diakon

Um das zu heilen, sei kein Gerichtsurteil geeignet – ob zur Bewährung oder nicht. Erst recht nicht, wenn man in dem 2024 veröffentlichten Buch des Täters (unter Pseudonym erschienen) den Eindruck gewinnt, dass er gar nichts bereue. Das Urteil gegen den Bielefelder ist rechtskräftig.