Bielefelder Ex-Diakon gesteht sexuellen Missbrauch – erstmals berichtet ein Opfer

Bielefeld. Nach mehr als dreijährigen Ermittlungen startete am Mittwoch, 4. Juni, der Prozess gegen den ehemaligen Jugenddiakon und Sozialpädagogen aus Bielefeld, dem die Staatsanwaltschaft sexuellen Missbrauch Schutzbefohlener, sexuellen Missbrauch von Jugendlichen und Besitz von Jugendpornografie vorgeworfen hatte. Nach rund drei Stunden war der Prozess auch schon wieder beendet. Das Schöffengericht unter dem Vorsitz von Richter Lars Herzog verurteilte den Ex-Mitarbeiter des Evangelischen Kirchenkreises zu einem Jahr und elf Monaten Haft auf Bewährung. Zusätzlich muss er 6.000 Euro als Geldauflage an eine gemeinnützige Organisation bezahlen. Das Urteil kam nach einer frühen Verständigung der Prozessbeteiligten zu Beginn des Verhandlungstages zustande. Strafverteidiger Carsten Ernst wollte dabei offenbar abklopfen, ob sein Mandant bei einem Geständnis eine Haftstrafe umgehen könne. Zu diesem Ergebnis sind die Prozessbeteiligten offenbar gekommen, denn anschließend räumte der Angeklagte in einer schriftlichen Erklärung, die sein Anwalt vortrug, alle vorgeworfenen Taten ein. Juristen sprechen von einem vollen Geständnis. Anwalt Carsten Ernst gab dabei zu Protokoll, dass sein Mandant damals einiges falsch eingeschätzt und dadurch Grenzen überschritten habe. Weitere Details zu seinen Grenzüberschreitungen und seiner Motivation waren dabei aber nicht zu erfahren. Ausführliche Ermittlungen der Bielefelder Kripo seit 2021 Seit 2021 hatten Kripo und Staatsanwaltschaft gegen den hauptamtlichen Mitarbeiter und Jugendbetreuer der Bielefelder Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde ermittelt. Die Staatsanwaltschaft sprach schließlich von dem Vorwurf, dass der Jugenddiakon männliche Jugendliche seiner Gruppen in sexueller Absicht angefasst haben soll. In der Anklage ging es um &bdquo;sexuellen Missbrauch Schutzbefohlener“, um &bdquo;sexuellen Missbrauch von Jugendlichen“ und den &bdquo;Besitz jugendpornografischer Dateien“. Dazu gehörten auch Fotos der Bielefelder Betroffenen. Die Staatsanwaltschaft ging laut Anklage davon aus, dass ein kleinerer Kreis von etwa fünf bis acht Jugendlichen in den Jahren 2005 bis 2011 regelmäßig von dem Jugendbetreuer zu Treffen eingeladen worden war – im privaten Umfeld, aber stets im dienstlichen Kontext. Bei diesen Treffen soll es regelmäßig um sexuelle Themen gegangen sein, &bdquo;wobei die Anwesenden teils nackt zusammengesessen haben“, wie eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft bereits im Herbst 2024 mitgeteilt hatte. Bei diesen Treffen soll der Jugendbetreuer bei mehreren Gelegenheiten männliche Jugendliche in sexueller Absicht an deren Geschlechtsorganen berührt haben. Von gemeinsamen Selbstbefriedigungen war die Rede. Auch ein Gipsabdruck vom Geschlechtsteil eines Jugendlichen soll dabei entstanden sein. In anderen Fällen soll er erst übergriffig geworden sein, nachdem die jungen Männer das 18. Lebensjahr erreicht hatten. Der Angeklagte entschied, wer zu seinem Inner Circle gehört Der Diakon galt bei den Jugendlichen als außerordentlich beliebt, war unkonventionell und stellte für gemeinsame Unternehmungen seinen Van sowie ein Ferienhaus zur Verfügung. Perfide: Aus dem Kreis der in der Jugendarbeit tätigen Minderjährigen schälte sich ein sogenannter &bdquo;Inner Circle“ heraus – und es war der Angeklagte, der darüber entschied, wer zu diesem engsten Kreis gehören durfte. Die Jugendlichen indes empfanden es als eine große Ehre, dazuzugehören. Und so nahmen sie hin, wenn der Diakon nur allzu offen über die geheimen sexuellen Wünsche der teils erst dreizehn oder vierzehn Jahre alten Jungen sprach oder aber sich bei gemeinsamen Saunabesuchen und geselliger Runde in der Wohnung des Diakons, in der die Anwesenden häufig nackt zusammensaßen, das Ritual des &bdquo;Schniepelziehens“ herausbildete. Opfer: &bdquo;Die Scham soll die Seite wechseln“ Er sei damals davon völlig überrumpelt und konsterniert gewesen, habe gleichwohl dem Mitarbeiter aber auch nichts entgegenzusetzen gehabt, berichtete nun ein sichtlich aufgewühlter Betroffener in der Verhandlung: &bdquo;Ich hatte damals ja überhaupt kein Konzept davon.“ Obgleich es ihn einige Überwindungen koste, habe er sich dazu entschlossen, seine Aussage in öffentlicher Verhandlung zu tätigen, sagte der heute 34-Jährige – und zitierte Gisèle Pelicot: &bdquo;Ich möchte, dass die Scham die Seite wechselt.“ Die Französin hatte in einem viel beachteten Prozess in Avignon ebenfalls in öffentlicher Verhandlung gegen ihren Ehemann ausgesagt, der sie über zehn Jahre lang betäubt und anderen Männern zum Sex angeboten hatte. &bdquo;Ich bin es leid, mich zu schämen“, ergänzte der Zeuge nun vor dem Schöffengericht unter dem Beifall der Zuschauer im proppevollen Saal 30 des Amtsgerichts. Doch ging der 34-Jährige mit der Kirche hart ins Gericht: Diese habe die Aufarbeitung verschleppt, die Taten ignoriert oder heruntergespielt: &bdquo;Das fühlt sich beschissen an. Ich war ja Teil dieser Kirche.“ Lesen Sie dazu: Nackttreffen mit Jugendlichen? Bielefelder Kirchenmitarbeiter angeklagt Der Kirchenkreis Bielefeld hatte nach Bekanntwerden der Vorwürfe durch die inzwischen erwachsenen Opfer der Taten im August 2021 selbst Anzeige gegen den Jugendbetreuer erstattet, dem kurz darauf umgehend gekündigt worden war. Christian Bald, Superintendent des Kirchenkreises Bielefeld, und Nora Göbel, Pfarrerin der betroffenen Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde, verfolgten den Prozess persönlich im Zuschauerraum. &bdquo;Wir möchten als Evangelische Kirche bei allen Betroffenen um Entschuldigung bitten“, sagte Bald am Rande der Verhandlung gegenüber dieser Zeitung: &bdquo;Es ist wichtig, dass die externe Aufarbeitung durch die Justiz nun einen Abschluss hat. Es ist wichtig, dass nun die sozialwissenschaftliche Aufarbeitung kommt.“ Um aufzuklären, ob &bdquo;durch Verantwortliche Warnhinweise übersehen wurden“ hat der evangelische Kirchenkreis Bielefeld eine Studie in Auftrag gegeben. Das Ziel der wissenschaftlichen Studie ist eine Analyse von Kirchenakten der Jahre 2000 bis 2021. Dabei sollen Strukturen überprüft werden, die möglicherweise sexualisierte Gewalt ermöglicht haben könnten. Dies soll unter besonderer Berücksichtigung der Betroffenenperspektive geschehen. &bdquo;Da müssen wir besser werden. Wir können nun den nächsten Schritt gehen, um unser Möglichstes zu tun, dass sich Derartiges nicht wiederholt.“ Kritik der Betroffenen an der Aufarbeitung durch den Kirchenkreis Bielefeld Vonseiten der Betroffenen gab es bis zuletzt immer wieder Kritik an der Kirchenführung im Umgang mit der Aufarbeitung des Falles. Sogar von einer gezielten Behinderung der Aufarbeitung war von einigen der Betroffenen die Rede. Christian Bald soll sich im Frühjahr für bestimmte Entscheidungen in dem gemeinsamen Prozess entschuldigt haben. Eine vorsätzliche Strategie, wie einige vermuteten, sei nicht intendiert gewesen, betonte ein Kirchensprecher. Superintendent Bald betonte nach der Verhandlung vor dem Amtsgericht: &bdquo;Wir wollen damit an die Öffentlichkeit gehen. Sollte es noch uns bislang nicht bekannte Betroffene geben, so wollen wir sie ermuntern, sich zu melden – gerne auch anonym.“ Lesen Sie dazu: Missbrauchsfall erschütterte Kirchenkreis Bielefeld – Aufarbeitung gezielt behindert?

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