OWL-Crime – mit Podcast

Vergessenes Verbrechen in Bielefeld – der Kindermord von Oberjöllenbeck

Als 1914 die Überreste eines Kindes in Oberjöllenbeck auftauchen, ahnt niemand, dass diese Indizien Teil eines grausamen Doppelmordes an zwei kleinen Kindern sind.

Das 1852 in Schildesche bei Bielefeld gegründete „Rettungshaus Schildesche“ war eine evangelische Fürsorgeerziehungsanstalt, in der 1914 etwa 200 Kinder und Jugendliche lebten. | © Michaela Heinze

03.04.2025 | 03.04.2025, 13:32

Bielefeld. An einem Sommertag im Juli 1914 entdeckt der Ingenieur Meyer zu Bargholz im Gehölz seiner Liegenschaft in Oberjöllenbeck unter vermodertem Laub eine Anzahl menschlicher Knochen, die von einem Kleinkind stammen. Das Außergewöhnliche an diesem Leichenfund ist, dass niemand ein Kind als vermisst gemeldet hat. Erst sieben Monate später kommt Bewegung in den Kriminalfall, und es stellt sich heraus: Es gibt noch einen weiteren Kindsmord.

Wie die Leiche in den Wald gekommen ist und wer sie dort verscharrt hat, bleibt noch eine längere Zeit im Dunkeln. Bis am 22. Februar 1915 eine junge Frau namens Berta Lucht auf einem Polizeirevier in Bielefeld erscheint und dem Wachtmeister Schulz Unglaubliches gesteht. Die im Wald gefundenen Knochenreste seien von ihrem Kinde Martha, das sie im Mai 1914 in Gemeinschaft mit ihrem Mann ermordet und dann im Wald unter Laub verscharrt hätten. Zudem gesteht sie, so steht es geschrieben, „dass ihr Ehemann ihr zweites Töchterchen Frieda am 18. Februar 1915 ebenfalls umgebracht habe“.

Historische Quellen beschreiben den Fundort der Kinderleiche sehr detailliert. „Nicht weit entfernt lagen verschiedene Kinderkleider, darunter ein schwarzes Unterröckchen, an welches ein wollenes Leibchen mit grau gestrickten Ärmeln angenäht war. Außerdem wurde in der Nähe noch ein leinenes Kinderhemdchen vorgefunden, an dem noch ein Fleischstück von etwa 15 cm Länge und 6 cm Breite klebte. Abseits von dieser Stelle, in einer Niederung, fand man noch außer einem Büschel Haare und einem Backenzahn eine Anzahl Knochenteile, die von einem Menschenschädel stammten. Es wurde festgestellt, dass es sich hier um die Reste der Leiche eines etwa drei bis vier Jahre alten Mädchen handelt.“

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Alle Fakten zum Kindermord von Oberjöllenbeck:

  • Im Jahr 1914 wird im Wald nahe Oberjöllenbeck (damaliger Kreis Bielefeld) die Leiche eines dreijährigen Mädchens entdeckt. Die Polizei ist ratlos, denn es wurde kein Kind als vermisst gemeldet.
  • Die Mutter, Bertha Lucht, gesteht Monate später, dass ihr Mann David die eigene Tochter ermordet hat. Sie offenbart zudem den Mord an ihrer zweiten Tochter.
  • Das Geständnis der Mutter bringt die grausamen Details ans Licht, darunter das vorsätzliche Ertränken und Erschlagen der dreijährigen Martha.
  • Der familiäre Hintergrund zeigt ein von Gewalt und Armut geprägtes Leben der Eheleute Lucht. Beide Täter wachsen in Fürsorgeeinrichtungen auf und führen ein unstetes Leben.
  • Im Prozess wird David Lucht des zweifachen Mordes für schuldig befunden, Bertha Lucht wegen Beihilfe zum Mord an der ersten Tochter. Beide werden zum Tode verurteilt.
  • Das Urteil wird am 19. Januar 1916 im Hinterhof des Bielefelder Gerichts vollstreckt. David Lucht wird durch den Scharfrichter Carl Gröpler in Bielefeld enthauptet. Seine Frau wird zu einer Zuchthausstrafe begnadigt, wird später vorzeitig entlassen und heiratet wieder.

Bertha Lucht wird zum Mord an ihrer dreijährigen Tochter Martha vernommen. Detailliert beschreibt sie den Tathergang: Am 8. Mai seien sie von Bielefeld gekommen. Sie hatten kein Geld und nicht zu essen. Da das Kind müde war, habe sie zu ihrem Mann gesagt: „Wir können das Kind doch nicht weiter mitschleppen.“ Darauf habe er erwidert: „Wir wollen es schon zur Ruhe bringen.“ Sie habe „den Sinn der Worte gleich erfasst und wohl verstanden, dass es sich um die ewige Ruhe“ handelte. Kaum sei das Kind halb eingeschlafen gewesen, habe sie es in den Bach gelegt und ihr Mann habe es untergetaucht.

Als das Kind noch röchelte, schlug er es gegen einen Baum

Nach einigen Minuten habe ihr Mann das Kind aus dem Wasser gezogen und „als es noch röchelte, mit einem Knüppel derart ins Gesicht geschlagen, dass ihm das Blut aus Nase und Mund gekommen“ sei. Danach habe er es „an den Beinen ergriffen und mit dem Kopf gegen einen Baum geschlagen.“ Daraufhin habe ihr Mann das Kind im Laube verscharrt.

Berta Luchts Anschuldigungen gegen ihren Ehemann führen zur Verhaftung David Luchts. Er wird verhört und gibt zu, die dreijährige Martha umgebracht zu haben. Bertha Lucht sei dabei gewesen, so sagt er es der Polizei, habe aber nicht eingegriffen. Im Zuge der weiteren Ermittlungen kommt zutage, dass David Lucht auch für den Tod seiner sieben Monate alten Tochter Frieda verantwortlich ist, die er einige Monate nach Marthas Ermordung in seinem Kinderbett erschlug. „So wurde offenbar“, schreibt die Presse damals, „dass das Ehepaar, das in ärmlichen Verhältnissen lebte und mit der Erziehung überfordert war, sich entschied, seine eigenen Kinder zu töten.“

Podcast-Produktion in der Podcastfabrik mit Birgitt Gottwald, Stadtarchivar Jochen Rath und Michaela Heinze. - © Michaela Heinze
Podcast-Produktion in der Podcastfabrik mit Birgitt Gottwald, Stadtarchivar Jochen Rath und Michaela Heinze. | © Michaela Heinze

In den weiteren Ermittlungen wurde bekannt, dass David Lucht, der am 20. Mai 1891 in Marienburg geboren wurde und in Oberjöllenbeck aufwuchs, bereits mit zwölf Jahren „dem Alkohol verfallen war“. Man gab ihn daher 1903 in die Fürsorge des „Rettungshauses Schildesche“, eine Art Erziehungsanstalt, wo er drei Jahre verbrachte und 1906 entlassen wurde. Seine spätere Ehefrau Bertha hatte früh den Vater verloren und wuchs in einem Waisenhaus auf, da die Mutter Alkoholikerin war und die Kinder nicht versorgen konnte. Sie kam später in eine Pflegefamilie, wurde dann aber wegen verschiedener Diebstähle ebenfalls im „Rettungshaus Schildesche“ untergebracht.

Mordverdächtiger berichtet von Unfall mit einem Wandbrett

Im Mordprozess, der noch 1915 beginnt, werden die gewalttätigen Ausbrüche David Luchts erörtert, die sich gegen seine Frau und die erst zwei Monate alte Frieda richten. So berichtete Bertha Lucht, dass ihr Mann das Baby misshandelt habe. Als sie am 18. Februar 1915 nach Hause kommt, habe das Kind in seiner Wiege gelegen und nur noch gewimmert. Sie habe gleich daran gedacht, dass etwas vorgefallen sei, und habe darauf gedrungen, zu einem Arzt zu gehen. Der konnte jedoch nur noch den Tod des Mädchens feststellen. David Lucht bestritt, dem Kind etwas angetan zu haben. Vielmehr habe sich, so berichtet er, ein Wandbrett gelöst und sei zusammen mit einem Teller auf den Kopf des Kindes gefallen.

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Doch das Gericht schenkt David Lucht keinen Glauben, wie die historischen Quellen belegen. „Das Kind hat eine schwere Verletzung am Hinterkopf“, wie der Vorsitzende Richter dem Angeklagten vorwirft. „Dass das zwei Monate alte Kind in seinem Bettchen aufrecht gesessen haben soll“, wie der Angeklagte argumentierte, und sich dadurch die Verletzungen am Hinterkopf zugetragen haben sollen, bezeichnete das Gericht „als unmöglich“. Damit folgte es auch der Aussage des behandelnden Arztes „Doktor Christlieb“, der schon früher schwere Misshandlungen am Kopf des Kindes bemerkt hatte.

„Eine so schwere Schädelverletzung in der Praxis noch nie vorgekommen“

Der geheime Medizinalrat Julius Rünninghoff, der die Obduktion der kleinen Frieda leitet, stellte fest, dass eine Schädelzertrümmerung so schwerer Natur vorgelegen habe, dass sie „unmöglich durch das Fallen eines Tellers oder das Herunterfallen des Wandbrettes herbeigeführt“ worden sei. Er betonte außerdem: „Eine so schwere Schädelverletzung wie bei der kleinen Frieda ist mir in meiner Praxis noch nie vorgekommen.“

Der Staatsanwalt führt aus, dass es sich bei den Luchts um zwei entmenschte Eltern handele: „Schon ihre Jugend trägt den Stempel des Verbrechertums an der Stirn.“ Aus der Beweisaufnahme stünde fest, „dass beide den Entschluss gefasst haben, ihr erstes Kind Martha, das ihnen lästig wurde, zu beseitigen.“ Es sei auch „unzweifelhaft erwiesen, dass sie das Kind nach einem wohlüberlegten Plane getötet haben“. Der Staatsanwalt führte weiter aus, dass „es mit der Wahrheitsliebe der Angeklagten nicht weit her sei“, jedoch gehe es aus „ihren Darstellungen klar hervor, dass beide gemeinschaftlich das Kind umgebracht haben, und zwar mit Überlegung“. Er beantragte deshalb, bei beiden Angeklagten die Frage nach Mord zu bejahen.

David Lucht habe den Säugling nicht ausstehen können

Dem zweiten Kind Frieda sei nur eine kurze Lebensdauer beschieden gewesen, es sei nur wenig über zwei Monate alt geworden. Der angeklagte Ehemann wird beschuldigt, auch dieses Kind umgebracht zu haben. Dem Angeklagten sei im Einzelnen nachgewiesen worden, „dass er den Säugling, den er nicht habe ausstehen können, misshandelt habe, wahrscheinlich mit der Absicht, ihn aus der Welt zu schaffen“. Auch in diesem Fall beantragte der Staatsanwalt, die Schuldfrage auf Mord zu bejahen.

Am 5. Juli 1915 wird David Lucht des Mordes in zwei Fällen und Bertha Lucht des Mordes in einem Fall vom Schwurgericht für schuldig befunden. Beide werden, wie vom Staatsanwalt gefordert, zum Tode verurteilt. Außerdem werden beiden die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt. Im Revisionsverfahren werden am 31. August 1915 die Todesurteile bestätigt. Damit sind sie rechtskräftig.

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Am 19. Januar 1916 um 8 Uhr wird im Hof des neuen Gerichtsgefängnisses an der Turnerstraße in Bielefeld das Todesurteil gegen den 24-jährigen David Lucht vollstreckt, nachdem zuvor die königliche Bestätigung eingetroffen war. Zur Hinrichtung ist neben dem Gerichtshof ein kleiner Kreis hiesiger Bürger erschienen. Mit dem Glockenschlag acht ordnet der Staatsanwalt Stadtländer die Vorführung Luchts an. Der Scharfrichter Franz Friedrich Carl Gröpler aus Magdeburg übernimmt danach den Delinquenten.

Scharfrichter Gröpler führt 144 Hinrichtungen durch

Die Vollstreckung des Urteils an dem Mörder Lucht wird durch Enthauptung mittels des Beiles durchgeführt. Gröpler ist preußischer Scharfrichter und nimmt von 1906 bis 1937 insgesamt 144 Hinrichtungen in Preußen, Mecklenburg, Oldenburg, Braunschweig, Sachsen und den Hansestädten vor. Er ist einer der letzten Scharfrichter in Deutschland, der Enthauptungen noch mit dem Handbeil durchführt. 1925 richtet er den berüchtigten Hannoveraner Serienmörder Fritz Haarmann hin.

Im Aufnahmestudio: Birgitt Gottwald und im Gespräch mit Jochen Rath, Leiter des Bielefelder Stadtarchivs. - © Michaela Heinze
Im Aufnahmestudio: Birgitt Gottwald und im Gespräch mit Jochen Rath, Leiter des Bielefelder Stadtarchivs. | © Michaela Heinze

Luchts Leiche wird später in das Institut für Anatomie der Universität Münster überstellt. Berta Lucht wird zunächst wie ihr Mann zum Tode verurteilt, aber später begnadigt. Ihre Strafe wird in lebenslängliches Zuchthaus umgewandelt. Durch einen zweiten Gnadenakt wird die lebenslange Zuchthausstrafe später zu einer 15-jährigen Haftstrafe. Die Oberjöllenbeckerin wird am 30. Oktober 1929 mit einer Bewährung von fünf Jahren entlassen und heiratet später noch einmal einen Mann – sie lebt da bereits im Ruhrgebiet.

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