OWL-Crime – mit Podcast

Baby in Eiseskälte ausgesetzt: Das Wunder von der Bielefelder Südschule

Dem kleinen Mädchen, das unter den widrigsten Umständen in Bielefeld zur Welt kam, geht es inzwischen bestens.

Es war ein eiskalter Januartag, als die Polizei das Neugeborene auf dem Gelände der Südschule fand. Die Überlebenschancen des Babys standen nicht gut. | © Paul Brinkmann

06.12.2024 | 02.01.2025, 14:43

Bielefeld. Ein Passant, der ausgerechnet in den Ferien den Weg über den Schulhof der Brackweder Grundschule einschlug, hat einem kleinen Baby womöglich das Leben gerettet. Der Mann entdeckte am 6. Januar 2024 auf dem Parkplatz der Kita, die neben der Südschule liegt, eine frische Nabelschnur. Er zählte eins und eins zusammen und benachrichtigte umgehend die Rettung. Und die zuerst eintreffenden Polizisten finden tatsächlich versteckt in einem Gebüsch hinter einer Hütte auf dem Schulgelände ein Neugeborenes – nackt, hilflos, zum Sterben zurückgelassen.

Den Polizeibeamten und den kurz darauf eingetroffenen Notärzten und Notfallsanitätern ist es trotz schlechtester Prognosen gelungen, das Leben des völlig unterkühlten Mädchens zu retten. Mit einer Körpertemperatur von 20 Grad kommt das ausgekühlte Menschenkind in die Klinik und überlebt.

Um über diesen Fall und vor allem die Hintergründe zu sprechen, die Mütter dazu bewegt, ihr Kind draußen zum Sterben auszusetzen, haben sich Birgitt Gottwald und NW-Redakteur Jens Reichenbach für die neueste Folge von Ostwestfälle, dem True-Crime-Podcast der „NW", zusammengesetzt. Sie sprechen über unerkannte und verdrängte Schwangerschaften, über Ausnahmesituationen, die ein rationales Denken oft nicht möglich machen, und über die dramatische Geburt an der Südschule in Brackwede.

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Ausgesetzte Babys – der Fall im Überblick:

  • Verzweiflung und Überforderung können Mütter im Extremfall dazu treiben, ihre eigenen Kinder auszusetzen. Solche Fälle spiegeln die dramatische Notlage wider, in der sich einige Elternteile befinden können.
  • Am 6. Januar 2024 entdeckte ein Passant auf dem Parkplatz der Kita neben der Südschule in Brackwede ein nackt und hilflos ausgesetztes Baby. Polizei und Notärzte retteten das unterkühlte Neugeborene.
  • Das Mädchen, nach dessen Rettung als „Wunder" bezeichnet, lebt nun in einer Pflegefamilie. Es zeigt eine positive Entwicklung und hat bisher keine neurologischen Schäden erlitten.
  • Obwohl die Mutter des Kindes bis heute nicht identifiziert werden konnte, laufen die Ermittlungen weiter.
  • Beratungsangebote in Bielefeld unterstützen Mütter in Krisensituationen und bieten vertrauliche sowie anonyme Geburtshilfe. Eine aktuelle Debatte über Babyklappen veranlasst die Stadt, deren Einrichtung zu erwägen.

Insider sprachen nach der Rettung des Babys von einem Wunder

Im Fall des Babys von der Südschule hatte die eigentlich tödliche Kälte an jenem Januartag womöglich auch positive Folgen. Der gesetzliche Vormund des Mädchens, der inzwischen die Rechte des elternlosen Mädchens vertritt, berichtete Ende Februar, dass die Ärzte bis dahin keine neurologischen Schäden des Gehirns feststellen konnten. Insider sprachen damals von einem Wunder.

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Hinter dieser Hütte soll das nackte Baby schutzlos im Gebüsch zurückgelassen worden sein. - © Jens Reichenbach
Hinter dieser Hütte soll das nackte Baby schutzlos im Gebüsch zurückgelassen worden sein. | © Jens Reichenbach

Offensichtlich hatte die eisige Kälte zur Folge, dass alle lebenserhaltenden Systeme des Mädchens so heruntergefahren wurden, dass neurologische Schäden weitestgehend ausblieben. Die zweistündige Reanimation durch die Rettungskräfte hatte weniger negative Folgen als etwa bei einem erwachsenen Menschen. Trotzdem sind die Ermittler der „Mordkommission Süd" immer noch davon überzeugt, dass der Tod des Babys unmittelbar bevorstand.

Pflegefamilie des Bielefelder Mädchens leistet tolle Arbeit

Heute – Anfang Dezember 2024 – geht es dem Baby übrigens noch besser als ohnehin im Februar durch die Ärzte bereits prognostiziert. Der Vormund, der namentlich nicht in Erscheinung treten möchte, berichtet von einem Baby, das neugierig und eifrig krabbelnd die Welt entdecke. Die Kleine lebe inzwischen in einer Dauerpflegefamilie, die das Kind aufgenommen habe und wirklich tolle Arbeit leiste: „Das aufgeweckte Kind gibt den Pflegeeltern viel Freude zurück." Die gute Nachricht der Kinderärzte: „Auch in den vergangenen Monaten sind keinerlei Komplikationen aufgetreten." Es spreche derzeit nichts dafür, dass noch Folgen zu erwarten sind. Allerdings seien späte Traumafolgen durch die dramatische Geburt immer noch nicht ausgeschlossen.

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Die Mutter, die dieses Kind zur Welt brachte, ist bis heute nicht bekannt. Der ermittelnde Staatsanwalt Christoph Mackel bestätigte, dass bisher keine Hinweise auf die Identität der Eltern eingegangen seien. Zeugen hatten ja in der Nähe der Südschule ein weißes Fahrzeug gesehen, in dem eine junge Frau und ein Mann gesessen hätten. Auch hatte die Mordkommission gefundene Kleidungsstücke gezeigt bzw. die Etiketten der von der Geburt blutverschmierten Hosen und Socken. Sie lassen aufgrund ihrer Herkunft (hergestellt in der Türkei) und aufgrund ihrer Optik (Kinderstoppersocken mit Pinguinmotiv) auf eine sehr junge, türkischstämmige Mutter schließen.

Psychische Krisen führen zur Verdrängung der Schwangerschaft

Einigkeit herrscht seit Bekanntwerden dieses Falles, dass sich Mütter, die sich dafür entscheiden, ihr Kind auszusetzen, in einer Ausnahmesituation befinden. Viele sind erfahrungsgemäß psychisch, so von den Problemen rund um die eigene Schwangerschaft beeinträchtigt, dass sie ihre eigene Situation komplett verdrängen. Im Fall der einsetzenden Wehen folgen dann Panikreaktionen.

Diese Socken könnte die Mutter getragen haben, bevor sie auf dem Gelände der Südschule ein Kind zur Welt brachte. - © Polizei
Diese Socken könnte die Mutter getragen haben, bevor sie auf dem Gelände der Südschule ein Kind zur Welt brachte. | © Polizei

Die Mordkommission ermittelt wegen eines versuchten Tötungsdeliktes. Die Ermittler gehen davon aus, dass das Neugeborene nicht gefunden werden sollte. Das ist für die juristische Einschätzung entscheidend. Wäre das Baby so abgelegt worden, dass es gefunden werden müsste, dann liegt „nur" noch der Straftatbestand des „Aussetzens" eines Kindes in hilfloser Lage vor (Paragraf 221 Strafgesetzbuch). Wobei im Ernstfall auch dies zu einer Haftstrafe zwischen ein und zehn Jahren führen könnte.

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Die Geburtsangebote in Bielefeld helfen Kind und Mutter

In Bielefeld löste der Fall eine Debatte über Babyklappen aus und warum es diese Möglichkeit, ein Baby in Sicherheit abzugeben, in Bielefeld nicht gibt. Die Stadt Bielefeld setzte auf andere Hilfen – und zwar für Mutter und Kind. Bei der „anonymen" wie auch bei der „vertraulichen Geburt" garantieren die Kliniken eine vollständige medizinische Versorgung und Nachsorge für Kind und Mutter. Alles passiert anonym. Das Kind wird anschließend dem Jugendamt übergeben und zur Adoption freigegeben.

Die Ermittlungen der Mordkommission führten bisher nicht zur Identifizierung der leiblichen Mutter des Kindes. - © Paul Brinkmann
Die Ermittlungen der Mordkommission führten bisher nicht zur Identifizierung der leiblichen Mutter des Kindes. | © Paul Brinkmann

Im Fall der „vertraulichen Geburt" werden im Vorwege bei den zuständigen Schwangerschaftsberatungen noch mehrere Fragen geklärt und vor allem auch die Information des Kindes in die Wege geleitet. Wenn das adoptierte Baby später 16 Jahre alt geworden ist, erfährt es von den Behörden den Namen der Mutter. Es ist die verspätete Möglichkeit, Mutter und Kind doch noch zusammenzubringen.

Die Stadt Bielefeld verzichtet auf eine Babyklappe

Wer das auf keinen Fall möchte, kann sich für die „anonyme Geburt" entscheiden. Auch hierbei ist die medizinische Versorgung auf der Geburtshilfestation gewährleistet. Aber eine spätere Information des Kindes wird es dann definitiv nicht geben.

Die Stadt Bielefeld hatte sich vor Jahren gegen die Einrichtung einer Babyklappe entschieden, weil man damit zu sehr Anreize schaffe, ohne wirklich helfen zu können. Die Betreiber der sieben Babyklappen in OWL sehen ihr Angebot dennoch als eine „letzte lebensrettende Lösung".

Im Anschluss an die aktuelle Debatte wollte das Jugendamt zusammen mit den Beratungsstellen und den Kliniken eine Einrichtung einer Babyklappe zumindest nochmals prüfen. Diese Prüfung dauert aktuell noch an. Die Petition einer Bielefelderin, jetzt doch noch eine Babyklappe in Bielefeld ins Leben zu rufen, bekam die Unterstützung von 2.772 Unterschriften.

Wichtige Hilfe für Betroffene in Bielefeld

Fragen zur anonymen oder vertraulichen Geburt bei den Bielefelder Schwangerschaftsberatungsstellen:

Babyklappen in OWL

  • Detmold: Babykörbchen Lippe, Eingang der Familienklinik am Klinikum Lippe, Sofienstraße,
  • Gütersloh, Babyfenster, Gütersloh-Blankenhagen, Blankenhagener Weg 138,
  • Herford: Babyklappe, Schwarzenmoorstraße 70,
  • Höxter: Babyfenster, Brenkhäuser Straße 71,
  • Hüllhorst: Babykörbchen, Hüllhorst-Ahlsen, Hauptstraße 128,
  • Minden: Babyklappe, Am Brühl 5,
  • Paderborn: Moses-Fenster, Am Busdorf 3.