Bielefeld. Wenn eine Mutter ihr Baby nicht annehmen kann oder will, dann steht der Mutter immer die Möglichkeit zur Verfügung, das Kind zur Adoption freizugeben. Doch manchmal ist für manche dieser Weg versperrt – sei es durch eine Einschränkung etwa durch eine psychische Erkrankung oder durch eine ganz persönliche Krise. Für einige Babys hat eine solche Überforderung sogar ihren Tod zur Folge gehabt. Die Cold-Case-Einheit der Bielefelder Kripo will nun fünf solcher Babymorde nachträglich aufklären.
Reihe toter Säuglinge - der Fall im Überblick:
- Über fünf Jahrzehnte hinweg erschüttern Funde von getöteten Säuglingen die Region, von erschreckenden Entdeckungen in einem Schließfach und Gebüschen bis hin zu einem Sortierband.
- Trotz intensiver Ermittlungen bleiben viele dieser Fälle ungelöst. So bleibt auch der grausige Fund eines Säuglings in einer Glasrecyclingfirma im Jahr 2005 rätselhaft, dessen Mutter bis heute spurlos verschwunden bleibt.
- Oft sind die Mütter verzweifelt, wie im Fall einer Fleischfabrikarbeiterin. 2015 setzte sie ihr Neugeborenes aus, das später gerettet wurde.
- Ein besonders mysteriöser Fall aus dem Jahr 1999 ist mit einer anonymen Notiz an die Polizei verbunden. Nachdem ein getötetes Baby in einem Eimer entdeckt wird, stellt die Mutter des Kindes ein verstörendes Ultimatum - und bleibt bis heute spurlos verschwunden.
- Am 15. April 1970 stößt man am Bielefelder Hauptbahnhof auf einen erschütternden Fund. Ein Neugeborener wird im Schließfach aufgefunden, eingewickelt in einer Plastiktüte.
Wie berichtet, hat sich im November 2023 bei der Bielefelder Polizei eine neue Einheit gegründet. Die „Ermittlungskommission Cold Case" hat die Aufgabe, nicht aufgeklärte Fälle neu aufzurollen. Vorprüfungen hatten in 44 Fällen Hoffnungen auf neue Ermittlungsansätze ergeben. Sechs dieser Fälle betreffen Babymorde, bei denen damals kein Verantwortlicher identifiziert werden konnte.
In der neueste Folge von „Ostwestfälle", dem True-Crime-Podcast der NW, werfen Birgitt Gottwald und Jens Reichenbach einen intensiveren Blick auf diese besonderen Fälle und gehen dabei auch der Frage nach, warum manche Mütter oder auch Väter keinen anderen Ausweg sehen, als das Baby zu töten.
Das sind die fünf Baby-Cold-Cases in OWL:
1970: Am 15. April finden Bedienstete im Bielefelder Hauptbahnhof in dem Schließfach mit der Nummer 137 einen erstickten Babyleichnam samt Nachgeburt. Der kleine Junge hatte laut der Rechtsmedizin etwa 30 Minuten lang gelebt und dürfte am 11. oder 12. April geboren worden sein, bevor er erstickt wurde. Das Baby lag in einer weißen Plastiktasche des Bielefeler Sporthauses Berke. Die Polizei lobt zehn Tage nach der Entdeckung eine Belohnung von 1.000 Mark für die Ergreifung der Verantwortlichen aus. Doch die Tat bleibt bis heute unaufgeklärt.

Die Polizei hat im April nochmals einen Aufruf an die Mutter versucht. Die Ermittler glauben, dass dieses Baby für sie immer unvergessen bleiben werde. „Auch nach über 50 Jahren gilt es dem gestorbenen Säuglingen einen Namen zu geben und sein Schicksal zu klären."
Lesen Sie dazu: Totes Baby in Schließfach am Bielefelder Hauptbahnhof: Polizei bittet Bürger um Mithilfe
1971: Am 16. August findet ein Angler in der Weser bei Petershagen-Wietersheim die Leiche eines vier Wochen alten Mädchens. Der Schädel des Babys ist zertrümmert, der Täter hat dem Baby eine Drahtschlinge mit einem halben Ziegelstein um den Hals gehängt, damit die Leiche nicht mehr an die Wasseroberfläche kommt.
1999: Am 2. Juli finden Landwirte bei Mäharbeiten am Grubebach bei Delbrück-Westenholz (nahe der Grenze zum Kreis Gütersloh) im Grubebach einen 10-Liter-Eimer aus Kunststoff. In dem gelben Behältnis steckt – eingepackt in Plastiktüten und Alufolien die Leiche eines Babys.
Die Obduktion des Neugeborenen ergab, dass das Baby lebensfähig war. Die Ermittler gehen davon aus, dass die Mutter des Kindes in der Gegend wohnte, denn sie reagierte mutmaßlich auf die Berichterstattung zu den Ermittlungen.
Lesen Sie auch: In diesen ungelösten Mordfällen aus OWL wird jetzt neu ermittelt
Wie die Kripo kürzlich erst bekanntgab, erreichte die Polizei nach der Tat ein anonymes Schreiben. Darin formuliert die Schreiberin, die als „die Mutter" unterschrieb: „Wenn ihr weiter nach mir sucht, dann ..." Die Polizei hat den Rest dieses Satzes und weitere Details aus dem Brief nicht veröffentlicht. Sollte der Brief echt sein, dann läge der Schluss nahe, dass die Mutter alle Neuigkeiten rund um den Babymord damals sehr genau in der Presse verfolgt haben dürfte. Trotzdem blieb auch dieser Fall unaufgeklärt.
1999: Am späten Nachmittag des 13. Juli – also nur elf Tage nach dem Fund im Grubebach – finden Spaziergänger in einem Wäldchen bei Bünde-Hunnebrock ein neugeborenes, totes Mädchen, das schwerste Kopfverletzungen aufweist. Die Mordkommission geht von einer Gewalttat aus. Die Verletzungen können nach Angaben der Rechtsmediziner nicht von der Geburt oder einem Unfall herrühren. Das Baby hatte bereits mehrere Stunden gelebt. Auch dieser Mord bleibt unaufgeklärt.
2005: Besondere Aufmerksamkeit erhält ein Fall vom 26. Juli, als ein Mitarbeiter beim Sortieren von Glas auf dem Sortierband einer Recyclingfirma in Harsewinkel-Marienfeld eine Babyleiche in einer Aldi-Tüte findet. Der Mitarbeiter erleidet einen schweren Schock. Jemand muss das Neugeborene nach der Tat in einem Weißglascontainer entsorgt haben. Die „Mordkommission Glas" stellt später fest, dass stumpfe Gewalt gegen den Kopf zum Tod des Babys führte. Bei der Obduktion wird klar, dass das Baby nicht fachmännisch entbunden wurde. Das Kind war eine Frühgeburt (41 Zentimeter, 1.500 Gramm), aber lebensfähig.
Das Baby wurde in einem von 85 Glascontainern entsorgt
Die Mordkommission überprüft später 85 Altglascontainer in 45 Städten. Diese liegen weit verstreut vor allem im Kreis Gütersloh, aber auch in den Kreisen Steinfurt und Unna sowie in Hamm. Alle Container werden auf Spuren untersucht, die Kripo hängt dort später auch noch Plakate mit einem Zeugenaufruf auf. Doch eine heiße Spur ergibt sich nie.

Es gibt aber noch weitere unaufgeklärte Fälle mit toten Babys, die allerdings nicht in den Aufgabenkatalog der Cold-Case-Einheit eingegangen sind. Im Juli 2008 findet ein Angler zwischen Bad Oeynhausen-Dehne und dem Flugplatz Porta Westfalica in der Weser ein totes Mädchen, das höchstens drei Tage alt war. Und im April 2015 findet ein Spaziergänger neben einer Schulsporthalle in Delbrück ein wenige Tage altes Mädchen. Beide Babys weisen keine Zeichen äußerer Gewalt auf.
In dem Delbrücker Fall gibt es allerdings eine ungewöhnliche Wendung: Die Mutter des toten Neugeborenen meldet sich bei der Polizei. Sie weist jede Schuld von sich. Ihre Angaben decken sich aber mit den Spuren am Fundort und den Ermittlungsergebnissen. Staatsanwaltschaft und Polizei gehen anschließend nicht mehr von einem Tötungsdelikt sondern von einer Totgeburt aus. Die Behörden sorgten damals dafür, dass die Frau medizinisch und psychologisch betreut wird.
Bleibt die Frage: Was kann eine Mutter oder einen Vater dazu bringen, sein Baby zu töten? Die klare Antwort von den Expertinnen der Bielefelder Schwangerschaftsberatungen ist: Es ist in der Regel eine krisenhafte Überforderung, vielleicht sogar eine psychische Erkrankung, weswegen diese Eltern keine anderen Auswege für sich finden, als das Baby zu töten.
Psychose bestimmt den Wunsch „Das Baby muss weg"
Eine Pro-Familia-Expertin sprach davon, dass diese Frauen in ihrer besonderen Lebenslage die Schwangerschaft oft verschleiern oder sogar selbst verdrängen. Wenn es dann aus ihrer Sicht plötzlich zu Geburtswehen kommt, könne das zu einem Trauma oder sogar zu einer Psychose führen. In dieser Krise beherrsche dann nur ein Gedanke das Verhalten dieser Frauen: „Das Baby muss weg." In diesem Zustand sind diese Menschen oft nicht in der Lage, ihr Handeln zu reflektieren.
2015 wurde in Gütersloh eine Leiharbeiterin aus der Fleischindustrie überführt. Sie hatte ihr neu geborenes Baby in einer Efeuhecke neben einem großen Parkplatz zum Sterben abgelegt. Eine aufmerksame Anwohnerin fand das wimmernde 2.500 Gramm schwere Baby, das die 39-Jährige alleine auf einer Baustelle zur Welt gebracht hatte, im Dickicht und rettete ihm damit das Leben.
Gütersloherin verdrängt Schwangerschaft bis zu den Wehen
Knapp einen Monat nach dem Fund konnte die Kripo die Mutter des Jungen identifizieren. Ein Gutachter stellte damals fest, dass die Frau unter einer dissoziativen Wahrnehmungsstörung litt, weswegen sich als „erheblich vermindert schuldfähig" eingestuft wurde. Diese Störung hatte dazu geführt, dass die Frau ihre Schwangerschaft bis zum Eintreten der Wehen verdrängt hatte.

Fünfzehn Minuten lang soll sie das Neugeborene noch auf dem Arm gehabt haben, bevor sie es zurückließ. Wegen versuchten Totschlags wird die Gütersloherin später zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt.
Die Kommunen und Krankenhäuser bieten heute längst gute Hilfsmöglichkeiten für solche Ausnahmefälle. Wer sich von der anstehenden Geburt eines Kindes überfordert fühlt, erhält Hilfe bei einer der drei Bielefelder Schwangerschaftsberatungsstellen:
- Diakonie für Bielefeld, Tel. 0521 98892602, Paulusstraße 24–26,
- Pro Familia, Tel. 0521 124073, Stapenhorststraße 5 oder
- SKF, Tel. 0521 9619143, Turnerstraße 4.
Kommunen und Geburtskliniken bieten anonyme Geburten an
Dort werden auch die Möglichkeiten einer anonymen oder vertraulichen Geburt erörtert. Die Krankenhäuser bieten den werdenden Müttern in solchen Fällen volle medizinische Geburtshilfe inklusive Nachsorge, ohne dass die Mütter die Verantwortung für das Baby übernehmen müssen. Die Neugeborenen werden dann vom Jugendamt in Obhut genommen und später zur Adoption freigegeben.
Weitere Infos dazu bietet die Fachstelle Kinderschutz der Stadt Bielefeld.
Darüber hinaus gibt es in OWL auch Babyklappen, anonyme Abgabestellen mit Wärmebetten, die direkt an Helfer oder Kinderkliniken angeschlossen sind. Babyklappen ermöglichen den Neugeborenen also sofortige Hilfe, nicht aber den Müttern, die nach der Geburt in der Regel auch versorgt werden müssen.
Das sind die Babyklappen in OWL
Die Stadt Bielefeld hat unter anderen auch deswegen auf eine Einrichtung einer Babyklappe verzichtet. Babyklappen gibt es aber in
- Detmold (Babykörbchen), Eingang der Familienklinik am Klinikum Lippe, Sofienstraße
- Gütersloh-Blankenhagen (Babyfenster), Blankenhagener Weg 138,
- Herford (Babyklappe), Schwarzenmoorstraße 70,
- Höxter (Babyfenster), Brenkhäuser Straße 71,
- Hüllhorst-Ahlsen (Babykörbchen), Hauptstraße 128,
- in Minden (Babyklappe), Am Brühl 5, und
- in Paderborn (Moses-Fenster), Am Busdorf 3.