
Bielefeld. Einsamkeit ist schambesetzt, aber allgegenwärtig. Niemand gibt gerne zu, dass er oder sie einsam ist. Es gilt als subjektives Gefühl, als starkes, negatives Erleben. In der modernen Industriegesellschaft mit ihrer starken „Individualisierung“ scheint sich Einsamkeit zu verstärken. Auch in Bielefeld ist man sich des Problems bewusst, versucht, auf vielfältige Weise einzugreifen, Angebote für Menschen zu entwickeln, die sich allein und einsam fühlen. In einer Serie beleuchtet die „Neue Westfälische“ in den nächsten Wochen das Thema von verschiedenen Seiten aus. Im ersten Teil geht es um das Phänomen an sich.
Obwohl die Vernetzung der Menschen durch Social Media voranschreitet, fühlen sich in Deutschland laut einer Studie des sozio-ökonomischen Panels (Langzeitstudie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung/Berlin) zehn bis 15 Prozent der Menschen einsam. Großbritannien hat 2018 wegen der grassierenden Zunahme ein Ministerium eingerichtet, das sich intensiv der Einsamkeit widmet.
In der Wissenschaftswelt hat man sich auf drei Formen von Einsamkeit geeinigt. Zunächst ist da die „soziale“ Einsamkeit, bei der sich Betroffene nicht in ein soziales Netzwerk eingebunden fühlen. Dann gibt es die „emotionale“ Einsamkeit, bei der man sich nach engen und vertrauensvollen Beziehungen sehnt, und drittens die „kulturelle“ Einsamkeit, bei der man sich nicht als Teil der Gesellschaft fühlt.
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Einsamkeit macht Menschen krank

Während sich die meisten Menschen mal allein fühlen, was ganz normal ist, wird es problematisch, wenn Einsamkeit chronisch wird und mit sozialer Isolation einhergeht. „Einsamkeit kann krank machen – körperlich und seelisch“, sagt Andreas Meyer-Lindenberg, Psychiater am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim der „Stuttgarter Zeitung“. Den Beweis erbrachte schon in den 1940er Jahren eine radikale Studie, mit der der österreichisch-amerikanische Psychologe René Arpad Spitz anschaulich beschrieb, wie kleine Kinder in Waisenhäusern bei zu wenig Nähe und sozialer Interaktion körperlich und mental verkümmern – obwohl sie genug Nahrung erhielten. Kontakt und Geborgenheit – das weiß man seitdem – sind so wichtig wie Essen, Trinken, Schlafen. Aber: Man kann sich auch dann einsam fühlen, wenn man von anderen umgeben ist.
Verschiedene Untersuchungen haben gezeigt, dass sich das Risiko für Krankheiten wie Depression, Angststörungen, Schlaganfall, Herzinfarkt, Krebs und Demenz bei einsamen Personen erhöht. Zudem ist die allgemeine Sterblichkeitsrate bei Einsamen höher. Im Gegensatz dazu trägt sozialer Austausch dazu bei, das Herz zu schützen und das Immunsystem zu kräftigen.
Als Maßstab für die Einsamkeit in Deutschland gilt oft die Zahl der Alleinlebenden in Städten und Landkreisen. Es ist jedoch nicht das Alleinsein per se, das Einsamkeit anzeigt. Entscheidend ist vielmehr, ob jemand, der alleine lebt, weniger soziale Verbindungen hat, als er oder sie sich wünscht.
Das „Einsamkeitsbarometer“ des sozio-ökonomischen Panels zeigt für 2024, dass die Einsamkeitsbelastungen in der deutschen Bevölkerung von rund sieben Prozent in 2017 auf rund 28 Prozent in 2020 gestiegen sind, 2021 haben sie sich wieder auf 11 Prozent eingependelt, die Wirkungen der Pandemie sind hier also offenkundig.
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Jeder Fünfte in Deutschland lebt allein
In Deutschland lebt laut den Daten des Statistischen Bundesamts jeder Fünfte allein. 20,3 Prozent der Menschen waren es im Jahr 2023, das ist deutlich mehr als in den meisten anderen Staaten der Europäischen Union, der EU-Durchschnitt liegt bei 16,1 Prozent. Überraschend: Die Slowakei hat mit nur 3,8 Prozent den kleinsten Bevölkerungsanteil Alleinlebender in der EU.
Besonders viele ältere Menschen ab 65 Jahren sind alleinlebend. In dieser Gruppe ist diese Wohnform fast doppelt so hoch wie beim Durchschnitt der sonstigen Altersgruppen. Frauen lebten 2023 häufiger allein als Männer, auch aufgrund ihrer höheren Lebenserwartung. Ihr Anteil an der Gesamtzahl Alleinlebender betrug 54,7 Prozent.
Mehr Ein-Personen-Haushalte in Bielefeld
Diese Zahlen bestätigen sich auch für Bielefeld, wo die Anzahl der Ein-Personen-Haushalte ebenfalls deutlich zugenommen hat, was den angespannten Wohnungsmarkt weiter unter Druck setzt. Der Lebenslagenbericht 2023 der Stadt Bielefeld, eine 140-seitige Handreichung, die die Profis in der Sozialen Arbeit mit Daten und Fakten versorgt und in ihrer Arbeit unterstützt, bestätigt den Bundestrend auch für Bielefeld.
Für 2023 nehmen die Autoren die Nach-Coronazeit in den Blick und ziehen Bilanz. Fazit von Sozialdezernent Ingo Nürnberger, dessen Ressort den Lebenslagenbericht herausgibt: „Es gibt eine nicht unerheblich große Gruppe von Menschen, die sich infolge der Corona-Pandemie nachhaltig zurückgezogen hat.“ Einige seien der Gesellschaft sogar regelrecht „verloren gegangen“.
Diese Menschen, erklärt Nürnberger, habe es schon vor der Pandemie gegeben, nach Ansicht von Experten seien es aber deutlich mehr geworden: „Die Krise wirkte als Verstärker bestehender Ungleichheiten.“ Wer schon vorher in Armut, beengten Wohnverhältnissen, mit den Problemen des Alters oder als Kind oder Jugendlicher mit wenigen sozialen Ressourcen auskommen musste, dessen Situation hat sich angesichts multipler Krisen verschärft.
Junge Menschen stark betroffen
Zugleich wurde laut Bericht festgestellt, dass „gerade junge Menschen weniger stark durch das Coronavirus in ihrer Gesundheit beeinträchtigt wurden, aber vermehrt unter den indirekten psychischen Schäden der Pandemie und anderer Krisen leiden“ (Studie: „Jugend in Deutschland“ mit 1.000 jungen Menschen zwischen 14 und 29 Jahren).
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Die Zahlen belegen auch, dass Alleinerziehende häufig (zu 51,2 Prozent in 2022) Transferleistungen wie SGB II beziehen und diese Situation knapper Mittel mit Isolation in der aktuellen Lebenslage einhergeht. „Armut und Einsamkeit gehen oft Hand in Hand“, stellt Silke Aron vom Sozialdezernat der Stadt im Gespräch mit der „NW“ fest.
Im Lebenslagenbericht heißt es hierzu: „Das Leben in Armut führt zu erheblichen Einbußen des subjektiven Wohlbefindens. Die Betroffenen fühlen sich weniger gesund, sind wesentlich weniger ehrenamtlich und politisch engagiert und nehmen selten an kulturellen Aktivitäten teil.“ Fehlende Teilhabe könne zu sozialem Rückzug und Vereinsamung führen. Die Pandemie habe diese Problematik noch verschärft.
Auch Alte und Pflegebedürftige fallen laut Analyse in die häufiger von Einsamkeit betroffenen Gruppen, verstärkt durch die erzwungene Isolation in der Coronakrise: „Mehr als zwei Drittel der für eine Quartiersuntersuchung der AWO-Befragten stellten mehr Einsamkeit und/oder depressive Verstimmungen bei ihren Angehörigen fest. 85 Prozent berichteten von einem Rückgang von Besuchen und Kontakten während und nach der Krise. Sogar gut jeder zweite pflegende Angehörige fühlt sich einsam in seiner Situation, vor der Pandemie waren es 33 Prozent.“ Für die Gruppe der Älteren stellt der Bericht fest: „Die beschleunigte Digitalisierung vieler Lebensbereiche hat dazu geführt, dass sich mehr ältere Menschen digital ausgeschlossen fühlen.“
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Bisher erschienen in der Themenreihe „Einsamkeit in Bielefeld“:
Teil 1: Einsamkeit als soziale Krise – Bielefelds unsichtbare Epidemie
Teil 2: Neustart in Bielefeld – So überwindet eine alleinerziehende Mutter Einsamkeit
Teil 3: Interview: Seelische Gesundheit in Bielefeld: Einsam zu sein ist kein Tabu
Teil 4: Bielefelder-Professorin: Jugendliche sind einsam und stehen unter enormem Druck
Teil 5: Einsamkeit im Alter ein wachsendes Problem auch in Bielefeld
Teil 6: Hunderte Bielefelder bekämpfen mit Spaziertreffs ihre Einsamkeit
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