Bielefelder Professorin: Jugendliche sind einsam und stehen unter enormem Druck

Bielefeld. Einsamkeit trifft alle Altersgruppen. Auch vermehrt Jugendliche und junge Erwachsene. Aktuell wird dieser Befund durch eine Studie der Techniker Krankenkasse (TK) bestätigt: 68 Prozent der Befragten zwischen 18 und 39 Jahren fühlen sich demnach häufig, manchmal oder selten einsam. 36 Prozent von ihnen leiden stark darunter. Die Bielefelder Professorin Anna Lena Rademaker vom Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Bielefeld (HSBI) kann diesen Trend mit einer eigenen Studie unterstreichen. Dafür hat sie Jugendliche zwischen 15 und 21 Jahren mit ihren Gefühlen und Entwicklungen in der Corona-Pandemie genau betrachtet. Wie steht es konkret um die Einsamkeit junger Menschen und um deren Hintergründe? &bdquo;Diese Gefühle sind deutlich mehr geworden. Junge Menschen durften in der Pandemie wichtige Lebenspassagen nicht erleben – Präsenzunterricht, Konfirmation, Abiball und andere Abschlussfeiern, Familienfeste, Partys und Treffen mit Freunden fielen über lange Zeit aus“, sagt die Forscherin. &bdquo;In dieser Lebensphase ist ein Jahr ein halbes Leben.“ Das habe sie in die Isolation getrieben. Was aber stark forciert worden sei belegen ihre Interviews mit Jugendlichen: Der Leistungsdruck machte keine Pause. Er stand oft anstelle der Förderung individueller Kompetenzen und Fähigkeiten. Auch in den Interviews mit pädagogischen Fachkräften sei deutlich geworden, was Jugendlichen fehlt: &bdquo;Das Verständnis zu haben, dass man Fehler machen darf. Dass man nicht mit 16 entscheiden muss, was man 50 Jahre lang arbeiten möchte“, so Rademaker. &bdquo;In der Pandemie haben sie Alltag und Rhythmus verloren“ Zwar liege hier immer ein Problemfeld deutscher Bildungseinrichtungen, in der Pandemie sei der Druck für viele Jugendliche aber übergroß und teils krankmachend geworden. Alltagsroutinen, Ausgleichsaktivitäten und der Austausch in der Peergroup fehlten. Jugendliche hätten aufgrund der &bdquo;Stay-at-Home-Policy“ ihren Alltag und Rhythmus verloren – das Einsamkeitsbarometer der Bundesregierung belege für die pandemische Zeit ab 2020 eine gewaltige Zunahme. &bdquo;Insgesamt stiegen die Einsamkeitsbelastungen bei der Gesamtbevölkerung von 7,6 Prozent 2017 auf 28,2 Prozent im Jahr 2020“, so die Professorin. Überraschend stiegen die Einsamkeitsbelastungen während der Pandemie bei jüngeren Menschen aber besonders stark an, übertrafen sogar die Werte der älteren Personen. Bemerkenswert sei, dass sich die Einsamkeitsbelastungen bei den älteren Personen im Jahr 2021 fast normalisierten. &bdquo;Bei den jüngeren Altersgruppen verharren sie auf einem höheren Niveau als vor der Pandemie.“ Hinzu kämen Isolation, weitere Bildungsbenachteiligungen und steigende Jugendarmut. In der Gesamtschau über verschiedene Studien hinweg zeige sich eine deutliche Zunahme psychischer Belastungen und Symptome während der Pandemie. Das sei heute noch spürbar. Einige der Gründe seien in starren Verwaltungsstrukturen im Sozial-, Bildungs- und Gesundheitswesen, hohem Leistungsdruck und einem stark auf Konkurrenz ausgelegten Lern- und Leistungssystem zu suchen. Rademaker konzentrierte sich in ihren Studien bewusst auf junge Menschen in der wichtigen Übergangsphase zum Erwachsensein. Eine Phase, die immer schon &bdquo;bewältigt“ werden musste – heute aber unter dem Eindruck multipler Krisendynamiken stehe. &bdquo;Können uns diesen Umgang mit jungen Menschen nicht leisten“ Das Traurige, so Rademaker, sei, dass die Aufarbeitung der Pandemie und ihrer psychosozialen Folgen durch Politik und Gesellschaft weitestgehend ausbleibe. In der Folge stellt sie deshalb die Frage: &bdquo;Inwieweit ist unsere Gesellschaft noch kinder- und jugendgerecht?“ Ihre Antwort fällt eher ernüchternd aus. Insbesondere in der Gesundheitspolitik sieht sie großen Nachholbedarf. Das könnte Sie auch interessieren: Hilfe für Einsame: Was man an Weihnachten in OWL tun kann Rademakers Untersuchung ist in einer Zuspitzung der &bdquo;normalen“ gesellschaftlichen Umstände angesiedelt: in einer Pandemie mit ihren Folgen durch Einschränkungen, Verbote, Ängste und fehlende Vorbilder sowie fehlende Souveränität in Familie, Politik und Gesellschaft für junge Menschen. Mit großen innergesellschaftlichen Spaltungen in einer staatlich angeordneten sozialen Isolation. Hinzu kamen mit übergroßen Gesundheitsängsten teils schlecht aufgeklärte Erwachsene, die wenig hilfreich sein konnten. Zudem eine lückenhafte Krisenkommunikation. Kooperiert haben die Studienautoren mit Einrichtungen der Berufshilfe, Berufsschulen und pädagogischen Fachkräften in Bielefeld und Bochum. Betrachtet wurden darüber hinaus besonders die Lagen von bildungsbenachteiligten Jugendlichen. &bdquo;Wir haben uns angeschaut, welche Resilienzfaktoren sie in der Pandemie hatten oder haben mussten, um die Situation gesundheitlich – das heißt mental und körperlich – relativ unbeschadet zu bewältigen“, erklärt Rademaker. Medien bilden nur das abweichende, auffällige Verhalten ab Die fehlende Aufarbeitung wirke zusätzlich destabilisierend und befördere teils extreme politische Strömungen. &bdquo;Wir wundern uns über alarmierende Statistiken zur psychosozialen Gesundheit, besonders in Verbindung mit Armut, und tun das Naheliegende nicht“, resümiert sie, die ihren Forschungsauftrag auch in der Bereitstellung von politischen Handlungsoptionen sieht. Man finde in den Medien als reichweitenstarke Informationsquellen häufig eher die &bdquo;Problematisierung Jugendlicher“, ihre vermeintliche Leistungsunwilligkeit, Suchttendenzen, auffälliges oder destruktives Verhalten. Eine verkürzte Wahrnehmung, die die Hintergründe und Ursachen problematischer Entwicklungen ausklammere. Die Wissenschaftlerin fordert ein Umdenken, ein ressourcenorientiertes Handeln, bei dem Jugendliche beteiligt werden: &bdquo;Wir können uns diesen Umgang mit Kindern und Jugendlichen nicht leisten – weder wirtschaftlich noch gesellschaftlich“, verweist die Professorin auf die Stigmatisierung einer ganzen Generation, die Angst habe, als &bdquo;Corona-Generation“ wahrgenommen zu werden. Lesen Sie auch: Studie: Vor allem Jugendliche leiden stark unter Einsamkeit Da die Ergebnisse eindeutig waren, hat die Forschungsgruppe weiter ausgeholt und erarbeitet, wie sich lokale Strukturen in der Gesellschaft verändern müssten, um jugendgerechter zu werden und die Perspektive junger Menschen in der Gesundheitspolitik stärker zu beachten. Zu schaffen seien angstfreie Räume, die nicht mit Stigmata besetzt seien, in denen die Stimmen junger Menschen gehört werden. In Bielefeld sieht die Wissenschaftlerin hierfür innovative Ansätze. Rademaker: &bdquo;Wir brauchen mehr Partizipation von Jugendlichen in der Gesundheitsförderung, müssen die jungen Leute und ihre Bedarfe stärker wahrnehmen, ihnen zuhören. Und begreifen: Es sind keine kleinen Erwachsenen, sondern Jugendliche mit ganz eigenen Bedürfnissen, Wünschen und Perspektiven.“ Die Expertin versteht die Soziale Arbeit daher nicht als Reparaturbetrieb für Jugendliche, sondern als &bdquo;Vermittlerin zwischen ihnen, der Praxis und Politik“, als Helferin bei der Ursachenbekämpfung. Und im Hinblick auf junge Menschen mit starken Einsamkeitsgefühlen: &bdquo;Wir wollen Stimme für jene sein, die nicht gehört werden.“

Meistgelesen