Seelische Gesundheit in Bielefeld: „Einsam zu sein, ist kein Tabu“

Herr Nürnberger, Frau Aron und Frau Killguss (Quartierssozialarbeit) – jeder vierte Bundesbürger empfindet sich laut sozioökonomischem Panel als einsam. Bilden sich diese 25 Prozent der Bevölkerung auch in Bielefeld ab? Silke Aron: Ja, diese Zahlen finden wir auch in Bielefeld bestätigt. Einsamkeit und fehlende Teilhabe hat außerdem oft eine enge Verbindung zum Thema Armut. Wer wenig Geld hat, kann nur schwer teilhaben. Was tut die Stadt gegen die Vereinsamung der Bürger? Aron: Wir versuchen, für jede Zielgruppe Begegnungsmöglichkeiten und -orte zu schaffen. Dabei gilt es, vor allem die schwer Erreichbaren zu finden, an die wir über eine soziale Infrastruktur nicht herankommen. Wir können ihnen zwar nicht mehr Geld geben, d. h. den kommunalen Regelsatz (für Transferleistungen, d. Red.) nicht ändern, aber wir können neue Zugänge zur Teilhabe schaffen. Aktuell haben wir unserem Verwaltungsvorstand vorgeschlagen, das Thema in die Sozialplanung aufzunehmen. Die Ein-Personen-Haushalte nehmen in Bielefeld seit 2019 zu. Wir werden das Thema noch strategischer angehen. Es soll nicht dem Zufall überlassen sein, wo engagierte Leute sind. Susanne Killguss: Bei uns in der Quartierssozialarbeit ist die &bdquo;Initiative Nachbarschaft“ angedockt. Sie bringt Hilfesuchende und Ehrenamtliche zusammen – die Themen Einsamkeit, Teilhabe, Begegnung und praktische Hilfestellung sind dort ganz oben auf der Agenda. Sie nehmen das Thema Einsamkeit in die Sozialplanung auf, ist das eine neue Entwicklung in Bielefeld? Aron: Ja, ganz neu. Wir haben uns auf ein (Europa-)SF-Förderprogramm beworben und hoffen, dass wir den Zuschlag bekommen. Das Programm heißt &bdquo;Zusammenhalt stärken – Menschen verbinden“ und richtet sich an Menschen zwischen 27 und 59 Jahren. Welche Aktionen gibt es? Ingo Nürnberger: Wir denken konkret an eine Armutskonferenz: Jetzt ist die Möglichkeit einer guten Förderung der Anlass, sich damit zu beschäftigen. Mit unserem Corona-Aktionsplan für Menschen, die in der Coronazeit ein Stück weit verloren gingen, haben wir gute Erfahrungen gemacht. Pragmatisches wie die Quartiers-Spaziergänge halfen, die Leute zurückzuholen. Lesen Sie auch: Neustart in Bielefeld: So überwindet eine alleinerziehende Mutter Einsamkeit Aron: Unsere Mitarbeiter sind in Supermärkte, Parks, Mietshäuser gegangen und haben versucht, herauszufinden, warum sich Menschen über soziale Infrastruktur nicht erreichen lassen. Eine Quintessenz war, dass es abschreckt, wenn wir &bdquo;Beratungsangebot“ drüber schreiben. Wir erreichen sie viel besser über etwas Gutes, das sie in ihrer Biografie erlebt haben – etwa Kochen, Singen, Hobbys, den Umgang mit Tieren. Wir empfinden uns als kommunalen Moderator, aber wir brauchen auch die freien Träger und die Zivilgesellschaft – Kirchengemeinden, Sportvereine usw. Die strategische Ebene kann bei der Stadt liegen, für die operative Ebene haben wir mit dem AWO-Kreisverband kooperiert. Wir brauchen Menschen, die uns den Zugang zu Betroffenen bahnen, als Multiplikatoren. Zudem wollen wir einen runden Tisch aufleben lassen, so können wir mit verschiedenen Trägern und Anbietern auf das Thema schauen. Wie sieht es mit Wohnprojekten für Alleinstehende aus? Aron: Darauf verzichten wir absichtlich, weil es uns um inklusive Wohnprojekte geht. Wir bieten viermal im Jahr Wohnprojekte-Treffen für Interessierte an, da explodieren gerade die Teilnehmerzahlen. Es gibt einen riesigen Bedarf. Das Nadelöhr sind aber Grundstücke für Projekte gemeinschaftlichen Wohnens. Wie erreichen Sie denn Menschen, die keiner bestimmten Zielgruppe angehören und nicht so einfach zu identifizieren sind? Aron: Zielgruppenübergreifend arbeiten wir schon immer in den Freizeitzentren, bald auch in den Stadtteilzentren und in der offenen Kinder- und Jugendarbeit. 14 Service- und Begegnungszentren widmen sich der Seniorenarbeit, dort wird immer mehr zielgruppenübergreifend gearbeitet. Lesen Sie auch: Herzenswunsch OWL: Bünde und Kirchlengern beschenken einsame Senioren Nürnberger: Wir haben drei neue Stadtteilzentren an den Start gebracht. Eins in der Windflöte, das richtig gut funktionieren soll, eins im Oberlohmannshof in Jöllenbeck und die Stadtteilküche in Sieker. Im nächsten Jahr kommt noch eins im Hellingskamp hinzu. Es gibt noch einige kleinere, die generationsübergreifend arbeiten. Es geht darum, Freizeit- und Kulturangebote, Beratungsangebote zu machen. Das Ganze niedrigschwellig, kostenfrei. Wir haben in den letzten Jahren richtig Gas gegeben, vor allem dort, wo Menschen leben, die einkommensmäßig nicht gut dastehen oder neu in die Stadt gekommen sind. Es gibt doch bestimmt eine Gruppe von Leuten, die Sie aufsuchen müssen, die nicht von allein kommen. Wie kommen Sie an die heran? Nürnberger: Das ist das Hauptproblem. Wir erhalten Hinweise von Nachbarn, Angehörigen, vom Krankenhaus-Sozialdienst, von der Pflegeberatung, aber auch von unseren Mitarbeitern aus der Grundsicherung. Wir schreiben Leute, die neu in die Grundsicherung kommen, präventiv an. Und dann gibt’s noch die &bdquo;Hilde“ .... Killguss: Das ist ein Infomobil, ein Bulli vom Sozialamt, mit dem wir in den Stadtteilen unterwegs sind. Manchmal haben wir Kooperationen mit Akteuren vor Ort oder stehen auf den Wochenmärkten. Manchmal kommen wir zu bestimmten Themen, wie etwa Pflege. Oder wir sind in der &bdquo;Woche der pflegenden Angehörigen“ oder bei der &bdquo;Aktionswoche gegen Einsamkeit“ dabei. Wir haben Equipment dabei, wie etwa eine ausklappbare Bank, die man als &bdquo;Plauderbank“ nutzen kann. Wir versuchen, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen, und erfahren so, welche Probleme und Bedarfe sie im Stadtteil haben. Das könnte Sie auch interessieren: Wenn Einsamkeit gefährlich wird: &bdquo;Menschen verlieren das Vertrauen in sich“ Nürnberger: Längst nicht alle Kommunen haben eine Quartierssozialarbeit. Wir sparen nicht daran, es gibt rund 23 Mitarbeitende allein in diesem Sektor. Wir sind da relativ gut ausgestattet und handlungsfähig. Vor allem sehen wir nicht nur die Einzelfallhilfen, sondern vernetzen uns und bekommen so gesellschaftliche Entwicklungen mit. Killguss: Die Sport- und Freizeitangebote machen wir nicht selbst, aber wir vermitteln an die entsprechenden Träger. Und zwar so, dass das gelingen kann. Da legen wir nicht nur einen Flyer vor. Was tun Sie für ältere, mobilitätseingeschränkte Menschen? Nürnberger: Das ist mit die größte Herausforderung, weil neben dem Thema, dass vielleicht der Partner verstorben ist, das Geld knapp ist, noch altersbedingte Einschränkungen hinzukommen. Diese Menschen versuchen wir über die Familienzentren zu erreichen. Auch, um Menschen, die noch nicht so lange in der Stadt leben, aus ihrer Isolation herauszuholen. Im &bdquo;Grünen Würfel“ versuchen wir, Alleinerziehende zu erreichen, bei denen wir präventiv Vereinsamung verhindern wollen. Dazu gibt’s unsere Familienfeste auf dem Kesselbrink. Auffällig ist, dass seit der Pandemie besonders junge Leute in eine Isolation geraten sind. Woran liegt das? Nürnberger: Sie sind in einer schwierigen Lebensphase. Ursache für eine Krise kann der soziale Druck wegen großer sozialer Unterschiede sein – manche können in der Schule nicht mithalten, etwa beim Kleidungsstil. Wenn ich familiär stark eingebunden bin, wenn ich nicht dem Schönheitsideal entspreche, das mir bei TikTok vermittelt wird. Oder ich schäme mich für irgendwas und habe nicht viel Anbindung. Dann ziehen sich junge Leute zurück. Gerade bei Jungen kommen hoher Medienkonsum, Spielsucht, psychische Belastungen durch die Krisen, familiäre Probleme hinzu. Nach Corona ist einiges hängen geblieben. Jugendliche stehen unter gewaltigem Stress. Pubertierende sind ohnehin instabil, da kann leicht etwas eskalieren. Wenn sie dann sozial nicht gut angebunden sind, umso schneller. Lesen Sie auch: Hilfe für Einsame: Was man an Weihnachten in OWL tun kann Jeweils im Herbst veranstaltet die Stadt die &bdquo;Woche der seelischen Gesundheit“. Mit rund 60 Veranstaltungen ist das ein großer Aufschlag ... Aron: Ja, wir versuchen, vorhandene Angebote zu bündeln. Wir als Stadt werden finanziell kurzatmiger und wollen es als Querschnittsthema verstanden wissen. Da machen viele mit. Das können Kommune oder Staat nicht allein machen. Wir müssen schauen, wie wir in den Quartieren sorgende Gemeinschaften anschieben, die Zivilgesellschaft einbinden. Nürnberger: Wir können Menschen zusammenbringen, die sich im normalen Leben nicht begegnen. Am Ende müssen wir niedrigschwellig über die Stadtteile gehen und vorhandene Strukturen stärken. Außerdem möchten wir vermitteln, dass es kein Tabu ist, einsam zu sein. Das Gespräch ?führte Heike Krüger. Bisher erschienen in der Themenreihe: Teil 1: Einsamkeit als soziale Krise – Bielefelds unsichtbare Epidemie Teil 2: Neustart in Bielefeld – So überwindet eine alleinerziehende Mutter Einsamkeit

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