
"Sei immer du selbst, es sei denn, du kannst Batman sein, dann sei Batman", hieß es früher. Die Zeiten sind vorbei! Seitdem Ubisoft Ende Oktober den dritten Ableger der "Watch Dogs"-Reihe auf den Markt gebracht hat, kann jeder ein Held sein. Jeder! Eben noch auf dem Weg zum Bridge-Club und schon eine 85-jährige Heldin. Gerade noch mit dem Skateboard an der Themse unterwegs und schon ein studentischer Held mit Hipsterfrise. Bauarbeiter, Obdachloser, Hackerin - völlig egal, aus welcher Gesellschaftsschicht man stammt, was man beruflich macht oder wie alt man ist. Wir alle sind zu Helden geboren, um das Unrecht aus der Welt zu treiben.
Klingt etwas zu dick aufgetragen? Ganz ehrlich: wir haben bei dieser Prämisse nicht dran geglaubt, dass "Watch Dogs: Legion" ein Knaller wird. Aber wir haben uns getäuscht. Es ist der Oberknaller, schlichtweg der beste Teil der ganzen Reihe. Es ist eine Open-World-Pracht voller Ideen, die man Ubisoft nicht mehr zugetraut hätte. Es ist, als habe sich Ubisoft selbst und "Watch Dogs" neu erfunden, denn es stellt die ersten beiden Teile völlig in den Schatten. Aber was zu Meckern gibt es dennoch.
Worum geht's?
Wir befinden uns in einem dystopischen London der nahen Zukunft. Nach einem Terroranschlag, bei dem mehrere Bomben explodiert sind, ist die britische Hauptstadt weitgehend von einer Privatarmee namens Albion unterjocht. Verbrechersyndikate unterwandern die Gesellschaft, und die Stadt ist rund um die Uhr überwacht - ein Albtraum für Datenschützer.
Die Terroranschläge werden der Hackergruppe DedSec in die Schuhe geschoben, die sich daraufhin komplett auflöst. Zu Beginn von "Watch Dogs: Legion" sind wir der letzte verbliebene Mensch, der das traditionsreiche Hacker-Konglomerat und den Widerstand wiederbeleben kann - und müssen herausfinden, wer wirklich hinter dem Terror steckt.

Was wir alleine schaffen: den Computer hochfahren, das Licht im Unterschlupf anmachen, Kleidung shoppen. Doch den Widerstand organisieren kann man nicht allein, dazu braucht es Hilfe. Und die finden wir auf den Straßen der Stadt, denn jeder der Menschen dort hat einen Grund, sich zu wehren und sich dem Widerstand anzuschließen. Und wir können jeden einzelnen davon selbst spielen. Jeder hat eine eigene Persönlichkeit und besondere Fähigkeiten, die uns nützen, und Ubisoft hat versprochen, maximale Varianz zu bieten.
Tatsächlich haben wir in unserem Spiel so viele Menschen kennengelernt und bisher keine Dopplung gesehen. Das ist grandios gelungen. Und es macht riesigen Spaß, sich aus ihnen ein Team nach ganz eigenen Vorstellungen zusammenzustellen, das uns einen enormen taktischen Spielraum bietet.
Was hat uns gefallen?
Wir beginnen mit den positiven Seiten des Spiels. Das Erste, was einem auffällt, ist wohl die erstklassige Optik, sobald man aus dem Pub auf die Straße tritt. Vor allem London hat sich grandios herausgeputzt. Die Farben sind fantastisch, und besonders die abendliche Beleuchtung ist eine richtige Freude. Auf den Straßen ist ordentlich Verkehr, und zwar mehrstöckig. Es ist ein bisschen wie beim "Fünften Element": Auf dem Asphalt sind Autos, Motorräder, Lkws und Busse unterwegs, in der Luft fliegen Nachrichten-, Paket- und Lieferdrohnen.
Wie man das als braver Tourist in einer fremden Stadt so macht, empfehlen wir, die Stadt erstmal zu Fuß zu entdecken. Als nächsten Schritt kann man es dann mal mit einem motorisierten Vehikel versuchen. Die fahren übrigens alle elektrisch - und sind mitunter nicht gerade leicht zu steuern. Besonders von Motorrollern würden wir eher abraten - da wird man schnell unabsichtlich zum Amokfahrer.
Wer es lieber gemütlich mag, macht den Autopiloten an und genießt die Aussicht, denn auch die ist täuschend echt: Big Ben, Tower Bridge, Camden, Piccadilly Circus, Westminster Abbey - alles da! Es ist natürlich eine eingeschrumpfte Version der Stadt, aber der Detailreichtum ist bemerkenswert. Leider lassen sich nur die wenigsten Gebäude betreten - aber im Vergleich zu den bisherigen Schauplätzen Chicago und San Francisco ist London einfach nur atemberaubend.
Wir sind jedoch nicht in der Stadt, um uns in Pubs zu betrinken und Darts zu spielen (ginge aber beides), sondern um London zu befreien. Uns stehen dazu nicht nur alle Londoner zur Verfügung, sondern natürlich allerlei Gadgets und Waffen. In der Einführung wird uns beigebracht, dass echte DedSecler keine Waffen benutzen, vor allem keine tödlichen, sondern dass wir lieber hacken und die Gegner im Nahkampf ausschalten. Wir haben die Wahl: mit Feuergewalt eindringen oder mit Taktik und Schleichen und Köpfchen?
Am meisten Spaß macht "Legion" - wie auch die Vorgänger -wenn man den Einsatzort auskundschaftet. Mit einer Drohne, die man kapert, mit gehackten Kameras oder dem sehr nützlichen Spider-Bot aus "Watch Dogs 2" als Gadget. Und dann Schritt für Schritt und kreativ-planvoll vorgeht. Die Rätsel, die es dabei zu lösen gibt, sind uns nie langweilig geworden, obgleich die dahinterstehenden Mechanismen sich natürlich ähneln. Wachen ausschalten, Laserschranken deaktivieren, Schleichwege finden. Und doch hat man bis zum Schluss der rund 30 Stunden dauernden Hauptstory nie das Gefühl: Mensch, das hatten wir doch schon!
Auf dem Weg zum Ziel brauchen wir immer wieder neue Rekruten. Die schließen sich uns natürlich nicht aus freien Stücken an, sondern durchlaufen einen Rekrutierungsprozess: wir sprechen sie an, sie klagen uns ihr Leid und was wir für sie tun können, und als Belohnung für unsere Hilfe schließen sie sich uns an. Quid pro quo. Das können einfache Botengänge sein oder auch der Klau von Krankendaten aus einem gut gesicherten Krankenhaus (da ist es dann gut, wenn man sich vorher schon einen Krankenpfleger ins Team geholt hat, der einfach so an den Wachen vorbeispazieren kann). Bis zu 45 Rekruten kann man gleichzeitig im Team haben.
Unser Tipp: Geht nicht achtlos an Menschen vorbei, denen Ihr aufgrund des Aussehens oder des Berufs nichts Heldenhaftes zutraut. Wir haben Rekruten verpflichtet, die unter Alkoholeinfluss zu wahren Kampfmaschinen geworden sind - und es gibt Level in "Watch Dogs: Legion", die erfordern genau diese Talente. Die Frage ist immer: wann braucht Ihr welches Talent und wer aus Eurer Umgebung kommt dem gerade am nächsten? Besser noch: wer aus Eurem Team kann das schon?
Und: wo Licht ist, ist auch Schatten. Wer etwas gut kann, kann anderes schlecht. Wir sind also nicht im Gott-Modus unterwegs, sondern haben auch immer Schwächen. Wer gut Drohnen kapern kann, ist auf der anderen Seite gesundheitlich schwach und kann nicht gut flüchten. Wer gut schießen kann, steht beim Hacken eines Geldautomaten wie der Ochs vorm Berg.
Das Thema "Überwachungsstaat" spielt natürlich eine große Rolle, und wer auf die feinen Zwischentöne hört, im Auto nicht immer sofort das Radio ausstellt oder in den Straßen auch mal die Lauscher aufstellt, bekommt viel geistigen Input über die unterdrückte Stadtgesellschaft und die Dauerüberwachung. Das Setting und die Atmosphäre passen.
Was hat uns nicht gefallen?
Auch wenn uns "Watch Dogs: Legion" wirklich, wirklich gut gefällt, ist das, was wir zu bemängeln haben, keineswegs Jammern auf hohem Niveau.
So grandios Ubisoft die Open World gelungen ist, so sehr fühlen wir uns zwischen diesen ganzen NPCs doch sehr verloren. Es wirkt mitunter seelenlos, obwohl auf den Straßen der Verkehr fließt - oder vielleicht gerade deshalb. Denn viele der Autos fahren leer, sind im Autopilot unterwegs, und niemand flucht oder will uns wie bei GTA wieder aus dem Auto zerren, wenn wir seine Karre mopsen. Wir steigen ein, stellen den Autopilot an, und lassen uns von der miserablen Musikauswahl berieseln.

Seelenlos wirkt es aber auch deshalb, weil wir keine richtige Beziehung aufbauen. Unsere Charaktere sind trotz ihrer einzigartigen Talente austauschbar. Das ist ein Atmosphäre-Detail, was Ubisoft hier liegen lässt. Und wir wissen durch die Corona-Pandemie derzeit alle sehr genau, wie wichtig der persönliche, emotionale Kontakt zu Mitmenschen ist, um nicht wahnsinnig zu werden.
Eure Teammitglieder werden zwar wichtig für Euch, und einige von ihnen werdet Ihr immer wieder auf Missionen schicken, andere dafür weniger, aber dass sie einem ans Herz wachsen, kann man nicht gerade sagen. Daran ändert auch die optionale Permadeath-Möglichkeit nichts. Die sorgt dafür, dass Helden, wenn sie vom Gegner ausgeschaltet werden, auch wirklich tot bleiben. Sie sind weg vom Fenster. Das führt zwar nicht zu mehr emotionaler Tiefe, aber die Konsequenzen vom unbedachtem Handeln werden spürbarer.
Hier spielt "Watch Dogs: Legion" eine große Stärke aus - man muss sie allerdings vorher einstellen. Wir glauben, dass die Auswirkungen der Option vielen Spielern nicht klar sein dürften, weshalb sie sie lieber ausgestellt lassen. Dann sind die Helden nach rund einer Stunde wieder fit und einsatzbereit. Besser wäre gewesen, Permadeath als Standard zu setzen und nur in der Schwierigkeitsstufe "leicht" auszustellen.
Wie schon bei anderen Ubisoft-Titeln reagieren die KI-Gegner auch in "Watch Dogs: Legion" manchmal ziemlich vorhersehbar, ab und zu auch schlichtweg dumm - auch auf dem härtesten der drei Schwierigkeitsgrade. Die Schwierigkeit des eigenen Spiels ändert eben nichts an der Intelligenz der anderen. Das ist ja auch im echten Leben so. Man darf aber hoffen, dass Ubisoft hier noch nachbessert. Beim Debakel um "Ghost Recon: Breakpoint" hat der Publisher auch Patch um Patch nachgeliefert. Es besteht also Hoffnung.
Wir haben außerdem immer wieder Spiel-Abstürze beim Test mit unserer PS4 erlebt. Dabei war die Performance durchweg sehr gut bis ordentlich. Vor allem wenn wir uns mit unserer Lieferdrohne wie mit einem fliegenden Teppich in die Lüfte erhoben haben, konnten wir sehr gut die unglaubliche Weitsicht genießen. Matschige oder nachladende Texturen haben wir nur selten erlebt. Wir sind natürlich gespannt, wie sich "Watch Dogs: Legion" mit vollem Raytracing und allem drum und dran ab dem 19. November auf unserer PS5 machen wird - wir werden berichten!
Unser Fazit

Wer Open-World-Games liebt, kommt in diesem Herbst nicht an "Watch Dogs: Legion" vorbei. Und wer die ersten beiden Teile gezockt hat, erst recht nicht. Denn "Legion" ist schlichtweg das Beste, was der Reihe passieren konnte. Wer von der ganzen Hackerei und dem Switchen von Kamera zu Kamera in den ersten beiden Teilen genervt war, sollte besser die Finger vom dritten Teil lassen. Denn: Das Hacking wurde mit "Watch Dogs: Legion" natürlich nicht neu erfunden.
Wir haben uns trotzdem (oder: gerade deshalb?) bestens unterhalten gefühlt, uns mit den unterschiedlichsten Helden durch London zu hacken und dabei eine Auswahl an Gadgets zur Hand zu haben, die auch einen James Bond erfreuen würden. Spielerisch, aber vor allem optisch ein absolutes Highlight - was will man denn mehr im tristesten Quartal des Jahres?
"Watch Dogs: Legion" ist ab rund 60 Euro für PC, XBox und PS4 erhältlich und hat von der USK keine Jugendfreigabe bekommen. Käufer können nach Erscheinen der nächsten Konsolengeneration ein kostenloses Upgrade für PS5 und XBox Serie X downloaden.