
Frau Haßelmann, die Unwetterkatastrophe der vergangenen Tage hat mehr als 160 Menschen das Leben gekostet und Milliardenschäden angerichtet. Sie selbst stammen vom Niederrhein. Was geht in Ihnen vor, wenn Sie die Bilder von den Hilfseinsätzen sehen?
Britta Haßelmann: Es sind erschütternde Bilder und Nachrichten, die uns alle erreichen. Es ist zum Weinen. Auch ich kenne Menschen, Städte und Orte, die getroffen sind. Eine solche Katastrophe ist plötzlich so nah. In Gedanken bin ich bei den vielen Menschen, die durch die Wassermassen in Gefahr geraten sind, mit Verlust und massiven Schäden zu kämpfen haben. Sie brauchen jetzt akute Nothilfe. Den Familien und Freunden bei der Katastrophe ums Leben gekommenen Menschen gilt mein Mitgefühl. Und den Rettungskräften, Feuerwehrleuten, THW, Bundeswehr und vielen Helfer*innen kann man gar nicht genug danken für ihren unermüdlichen Einsatz. Auch die Feuerwehren aus Bielefeld und OWL verdienen große Anerkennung. Hoffnung gibt der große Zusammenhalt, die Hilfsbereitschaft und Solidarität.
Es hat bereits eine Debatte um die Wirksamkeit des Katastrophenschutzes eingesetzt. Was ist in diesem Bereich kurzfristig zu tun?
Es ist nötig, die Risikovorsorge zu verstärken. Schon nach wenigen Tagen wird klar, dass wir insgesamt eine bessere Koordination im Katastrophenschutz benötigen. Krisenmanagement braucht klare Verantwortung. Wir benötigen eine Zentralstelle für Katastrophenschutz, die mehr Befugnisse hat. Es darf nicht sein, dass jede Kommune, jeder Landkreis und jede Landesregierung die Menschen in der Region unterschiedlich stark alarmiert und unterschiedlich gut Zugang zu wichtigen Informationen im Katastrophenfall bietet. Deshalb soll das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe ausgebaut und mit mehr Kompetenzen ausgestattet werden. Und Kommunikation im Krisenfall, WarnApp und Sirenen müssen besser werden. In der Sondersitzung des Innenausschusses nächsten Montag werden wir auch diese Fragen diskutieren. Viele Wissenschaftler sehen den Starkregen als unmittelbare Folge des Klimawandels.
Was bedeutet dies für den Handlungsdruck der Politik?
Wir brauchen eine große, nationale Kraftanstrengung. Neben der akuten Nothilfe für die Menschen vor Ort, brauchen wir eine bessere Risikovorsorge durch Klimaanpassungsmaßnahmen. Dazu gehören ein besserer Hochwasserschutz und ein Ende der massiven Flächenversiegelung. Unsere Städte müssen klimaresilient werden und unsere Flüsse brauchen mehr Raum. Jetzt sind konkrete Maßnahmen für wirksamen Klimaschutz nötig.
Müssen wir nicht auch darüber reden, ob unsere Siedlungs- und Bauplanungspolitik wieder nachhaltiger werden muss?
Ja, das müssen wir. Der Flächenverbrauch für Siedlungs- und Verkehrsflächen ist eines der ungelösten Umweltprobleme. Wir versiegeln viel zu viel Fläche. Das muss sich ändern. Die Herausforderungen im Bereich Bauen und Wohnen sind gewaltig – und regional sehr unterschiedlich. In Bielefeld und im Umland ist das Bauland knapp und die Nachfrage nach Wohnraum weiterhin hoch. Andernorts gibt es Leerstand. Wir brauchen Zuschüsse für klimaneutralen Neu- oder Umbau, eine Nutzung von Brachflächen, Kasernen und leerstehenden Gebäuden. Wir wollen bezahlbares Wohnen für alle sichern.
Wird diese Naturkatastrophe den Bundestagswahlkampf verändern?
Diese Extremwetter-Katastophe hat so viel Leid, Verwüstung und Zerstörung gebracht, mit der Bewältigung werden wir ab jetzt über Jahre beschäftigt sein. Neben der akuten Nothilfe sind massive Investitionen in Infrastruktur und Klimaanpassung notwendig. Die Klimakrise ist die Existenzfrage unserer Zeit. Wir brauchen jetzt ein Sofortprogramm, konkrete Maßnahmen und ein entschlossenes Handeln zu Klimaneutralität. Davon bin ich überzeugt.
"Es ist offensichtlich, dass Fehler gemacht wurden"
Wie sieht die Wahlkampf-Zwischenbilanz bei den Grünen aus? Es gab ja zuletzt sinkende Zustimmungswerte für die Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock.
Bisher ist es nicht immer gelungen, die politische Auseinandersetzung über große Zukunftsfragen dieser Zeit zu führen: Klimaschutz, Gerechtigkeit, Freiheit, Wohlstand. Es ist offensichtlich, dass Fehler gemacht wurden und es Versäumnisse gab. Unsere Aufgabe ist es jetzt, uns auf unsere Stärken zu konzentrieren und die inhaltliche Auseinandersetzung zu suchen. Dazu gehört allen voran wirksamer Klimaschutz, der geht nur sozial und gerecht und dafür steht Annalena Baerbock.
Wie ist angesichts dieser Rahmenbedingungen die Stimmungslage bei der grünen Basis in Ostwestfalen-Lippe?
Wir sind alle erschüttert über das Ausmaß der Flutkatastrophe. Das lässt niemanden los. Dass der Streit darüber, wie wir unser Land zukunftsfähig gestalten, in Wahlkampfzeiten mitunter hitzig geführt wird, ist allen Beteiligten klar, auch unseren vielen, engagierten Mitgliedern vor Ort. Alle sind mobilisiert. Denn wir wissen, es geht um richtig was. Die Bekämpfung der Klimakrise erfordert jetzt entschlossenes Handeln. Die Zeit der Ankündigungen und Sonntagsreden ist vorbei. Wir brauchen eine gemeinsame Kraftanstrengung und können uns keinen weiteren Stillstand leisten.
"Der Klimawandel macht auch OWL zu schaffen"
Welche Themen sind Ihnen selbst wichtig in der Debatte mit den Bürgerinnen und Bürgern in den kommenden Wochen?
Natürlich wird auch mich die Bewältigung der Flutkatastrophe für die betroffenen Menschen, die Unterstützung der Städte, Gemeinden und Landkreise und die notwendigen Investitionen in zerstörte Infrastruktur und Klimaschutz sehr beschäftigen. Der Klimawandel macht auch OWL zu schaffen. Unsere Städte und Gemeinden müssen klimaresilient werden. Dafür braucht es Unterstützung des Bundes für Investitionen in kommunalen Klimaschutz und in die Verkehrswende. Außerdem können wir es nicht hinnehmen, dass in Bielefeld mehr als jedes fünfte Kind in Armut lebt. Alle Kinder brauchen faire Chancen und sollen ohne Armut aufwachsen können, dafür brauchen wir eine Kindergrundsicherung.
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