Trauer um Paderborner Künstler: Er war als Herr der Köpfe bekannt

Paderborn. Er mochte keine leeren Blätter. Gerhard Staufenbiel hatte immer mindestens einige Linien auf dem angefangenen Papier vom Vortag, damit er den neuen Tag nicht auf nacktem Weiß starten musste. Das war eine Eigenart des Paderborner Künstlers, der als Herr der Schädel, Köpfe und Kugeln bekannt geworden ist. Zeichnen war seine Rettung. So kam Staufenbiel heraus aus einer persönlichen Krise. Er suchte Gegenstände mit einer für ihn reinen Form und stieß auf den menschlichen Schädel: das Motiv, das ihn fortan faszinierte: Seitdem war er auch im Besitz eines Exemplars, das er geschenkt bekommen hatte. Dadurch und aufgrund des Besuchs einer Ausstellung mit anatomischen Zeichnungen von Leonardo da Vinci wusste er: &bdquo;Jetzt habe ich meinen Gegenstand.“ Ein ambivalenter, Ehrfurcht gebietender und auch schauerlich-morbider Gegenstand. Kurzum ideal. Seit der Künstler seinen Ur-Schädel 1976 aufs Papier brachte, hatte er ihn tausendfach verändert und aus allen Varianten, Ansichten und Querschnitten gezeichnet. Sein Lieblingssujet durchlief dabei eine Evolution: vom Ausgangspunkt des nackten, knöchernen Hauptes, das aus ausdruckslosen Augen- und Nasenhöhlen mit leerem Blick von den Blättern stiert, hin zum Kopf, der ganze Geschichten erzählt. Der Paderborner Künstler gönnt seinen Schädeln immer mehr Körperlichkeit Seine blanken Blei-Striche sind dabei am bedrückendsten – kommt einem aus der Zeichnung doch wahrlich ein Albtraum entgegen. Etwas später gönnte er dem Schädel immer mehr Körperlichkeit. So wurde etwa die Wirbelsäule mit dem Rückenmark zur Verlängerung des Kopfes. Neue Ausstellung im Diözesanmuseum: Mittelalter trifft auf zeitgenössische Kunst Staufenbiel wurde 1938 in Magdeburg geboren. Seine Mutter starb 1949, sein Vater fünf Jahre später. 1956 flüchtete er aus der DDR und war als Journalist, Software-Entwickler und technischer Redakteur tätig. Auf der Suche nach seinem Ding, seiner Form, brachte er als junger Mann zunächst Landschaften und Blumen etwa im August-Macke-Stil aufs Blatt. Auch abstrakt ging er ans Papier, beeinflusst vom deutschen Informel. Seit jeher ist der Schädel Symbol der menschlichen Endlichkeit. Staufenbiel erzählt damit variantenreich vielfältige, niederdrückende, aber auch triumphale Seelengeschichten und mit hintergründigem Humor. Die Zeichnungen vermitteln auch die Ahnung von Leben im Tod. Während der frühe Staufenbiel dem Fokus der Form folgte, trat später zunehmend der innere Zustand des Menschen und seine Sterblichkeit hervor. Gerhard Staufenbiel ist stark von Literatur beeinflusst Im Einzelfall hatte er konkrete Anlässe für sein Schaffen: Wie bei den Zeichnungen &bdquo;Krieg“ vom 17. Januar 1991 – dem Tag, an dem die USA den Irak angriffen. Doch konkret lesbar sind die wenigsten Zeichnungen. Dafür steckt in ihnen zu viel, was der vielseitig interessierte und belesene Künstler durch Anspielungen oder Zitate hineingepackt hat. Philosophie, Kunstgeschichte und Naturwissenschaft. Und vor allem Literatur. War es dann noch sein Friedrich Hölderlin, mit dessen Werk sich Staufenbiel immer wieder intensiv beschäftigt hat, war seine Bilderwelt kaum zu durchdringen. Auch der lippische Dramatiker Christian Dietrich Grabbe animierte ihn zu Zeichnungen – oder auch Johann Wolfgang Goethe, Anna Achmatova, Jean Paul und Franz Kafka. Städtische Galerie und Kunstmuseum: Doppel-Ausstellung ehrt verstorbenes Künstler-Ehepaar Nach Paderborn gezogen war Staufenbiel 1979 wegen seines Brotjobs beim Computer-Hersteller Nixdorf, für den er bereits ab 1970 tätig war. In einem Gespräch sagte er einmal, dass Paderborn ein guter Ort zum Leben sei, aber nicht seine Heimat. Die brauche er auch nicht. Der Chance, echte Heimatgefühle zu entwickeln, sei er beraubt worden, als er als kleiner Junge mit seiner Familie vom Land nach Magdeburg zog, wo er sich nie wohlfühlte. Mehrere Tausend Zeichnungen hat der Künstler in seinem Leben geschaffen. Sein Werk ist auch eine Galerie der Lebensveränderungen, der Gefühle und Metaphern. Staufenbiels Schädel liegen zwischen Leben und Tod, zwischen realer Abbildung und Abstraktion. In den meisten Fällen körperlos, aber nie seelenlos. Sehen konnte man dies auch in verschiedenen Ausstellungen – unter anderem in der Städtischen Galerie am Abdinghof. Paderborner hat &bdquo;NW“-Kulturstern des Jahres erhalten In späteren Jahren liebte Staufenbiel auch die Form der Kugel als vollendete Harmonie und Geometrie. Köpfe schauen aus Kugeln und umarmen sie. Auf die Form der glatten Kugel kommt Staufenbiel durch Otto von Guerickes sogenannte Magdeburger Halbkugeln, in denen ein Vakuum entsteht. Nachruf: Ex-Kammerspiele-Intendant gestorben: Ein Theatermacher mit Anspruch Der frühere &bdquo;NW“-Feuilletonchef Manfred Strecker nannte Staufenbeil anlässlich der Verleihung eines von dieser Zeitung verliehenen Kultursterns des Jahres 2007 einen &bdquo;Denker mit Zeichenstift und Aquarellpinsel“. Vor 18 Jahren habe ich Gerhard Staufenbiel das erste Mal getroffen. Seitdem war er für mich so präsent wie wenig andere Künstler in Paderborn und überhaupt – und das nicht nur durch einige seiner Arbeiten in meinem Wohnzimmer. Wie erst kürzlich bekannt wurde, ist Gerhard Staufenbiel Ende Februar nach kurzer, schwerer Krankheit im Alter von 86 Jahren verstorben.

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