HÜLLHORST

Fliegen ohne Flugzeug

NW-Volontärin Jessica Kleinehelftewes geht mit den Mühlenfliegern in die Luft

19.09.2012 | 17.06.2022, 14:20
NW-Volontärin Jessica Kleinehelftewes (vorn) und ihr Begleiter Frank Fährenkämper setzen sanft zur Landung an. - © FOTO:TYLER LARKIN
NW-Volontärin Jessica Kleinehelftewes (vorn) und ihr Begleiter Frank Fährenkämper setzen sanft zur Landung an. | © FOTO:TYLER LARKIN

Hüllhorst. Sich in die Lüfte zu erheben, frei wie ein Vogel über den Dingen schweben - das ist ein uralter Menschheitstraum. Denn wie heißt es so schön: Nur fliegen ist schöner. Jetzt da ich kurz davor stehe mit dem Gleitschirm gen Himmel zu steigen, muss ich gestehen, dass ich mir mehrere Dinge vorstellen kann, die ich schöner finde. An meiner prekären Situation trage ich jedoch selbst die Hauptschuld. Schließlich war es mein Vorschlag, für eine Reportage mit den Mühlenfliegern in die Luft zu gehen. Jetzt habe ich den Salat.

"Ich hoffe, sie haben eine Versicherung abgeschlossen", mit diesen Worten begrüßt mich Joachim Mehnert, selbst passionierter Paraglider, lächelnd. Seit 2004 gibt es die Mühlenflieger Schnathorst. Seit 2006 starteten die Vereinsmitglieder auch am Lübber Siek. "Bis 1972 sind hier Segelflieger gestartet", weiß Mehnert. Er selbst fliegt seit 2001. "Es hat mich fasziniert, ohne großen Aufwand abzuheben." Wer selber fliegen möchte, braucht eine Ausbildung, an deren Ende eine Flugscheinprüfung steht. "Wer im Tandem fliegt, braucht eine zusätzliche Ausbildung", erzählt Mehnert. Und letztendlich: "Oben geblieben ist noch keiner."

Information
Der Gleitschirm:Der Schirm setzt sich zusammen aus einer Kappe, welche durch Fangleinen mit dem Gurtzeug des Piloten verbunden ist. Die Kappe besteht in der Regel aus einer zweilagigen Tragfläche, zumeist gefertigt aus Nylon-Stoff. Zudem führt jeder Gleitschirm-Pilot einen Rettungsfallschirm mit sich, der ihn im Falle eines Schadens sicher auf die Erde zurück bringt.

Das Gurtzeug: Das Gurtzeug ist der Sitz, mit dem der Pilot mit dem Gleitschirm verbunden ist. Mittels Karabinerhaken werden die Tragegurte des Schirms eingehängt. Hinter und unter dem Sitz verbirgt sich ein Protektor in Form eines Schaumstoffkissens oder Airbags, der unsanftes Aufsetzen mildern und somit Verletzungen vorbeugen soll.

Technische Hilfsmittel: Viele Gleitschirmpiloten nutzen als technische Hilfsmittel ein Variometer, um die eigenen Steig- und Sinkwerte sowie die Flughöhe ermitteln zu können.

Bekleidung: Zur Bekleidung werden warme, winddichte Textilien, zum Beispiel Gore-Tex, verwendet, da es mit zunehmender Flughöhe kälter wird. Schuhe mit hohem Schaft als Knöchelschutz und ein obligatorischer Helm gehören ebenso zur Ausrüstung, wie ein Paar Handschuhe zum Schutz der Finger, falls einmal direkt in die Leinen gegriffen werden muss.

Ich überlege noch, ob mich diese Aussage beruhigt oder nicht, während mir Frank Fährenkämper, mein Tandempartner, das Gurtzeug angelegt und mir eine Einweisung ins Gleitschirmfliegen gibt. Dann rückt mein erster Flug näher. Sorgsam wird kurz vor dem Start der Schirm in Position gebracht, werden die Leinen sortiert - nun kann es losgehen.Startbereit stehe ich vor Fährenkämper auf einem Feld am Lübber Siek in Schnathorst, eine von zwei zugelassenen Schleppstrecken des Vereins. Die Sonne scheint, der Wind kommt direkt von vorne - ideale Bedingungen. Der erfahrene Gleitschirmflieger gibt Informationen an den Startleiter weiter, dieser ist das Bindeglied zwischen Pilot und den Männern an der 800 Meter entfernten Seilwinde. Plötzlich geht alles ganz schnell: Das Seil spannt sich, mit einem hörbaren Rauschen bauscht sich der Schirm. "Laufen", ruft mir Fährenkämper zu.

Weit komme ich allerdings nicht. Bereits nach zwei Schritten werde ich in die Luft gezogen. Sekunden später steige ich in luftige Höhen, während Menschen, Autos und Häuser unter mir aussehen wie Miniaturen. Noch hängen wir am Schleppseil. Als wir fast senkrecht über der Seilwinde stehen, bekomme ich die Anweisung, die Verbindung zu kappen.

Ich werfe einen skeptischen Blick auf den kleinen grauen Griff, der unser Gurtzeug mit dem Schleppseil verbindet. Wie er funktioniert hat mir mein Flugbegleiter bereits erklärt, als ich noch sicheren Boden unter den Füßen hatte. Ich atme tief durch: Ein kurzer Ruck am Griff genügt, dann sinkt das Seil zurück zur Erde, während wir weiter in Richtung Wolken schweben.

Jessica ist froh, wieder auf festem Boden zu sein.
Jessica ist froh, wieder auf festem Boden zu sein.

"Einmal tief durch atmen und dann die Aussicht genießen", rät mir auch Fährenkämper. Ich riskiere einen kurzen Blick nach unten - es ist gar nicht so schlimm wie gedacht. Zwar bin ich weit davon entfernt,mich entspannt zurückzulehnen, doch ich fange an, den Flug zu genießen. Neugierig lasse ich den Blick schweifen: Unter uns liegt Schnathorst, hinter uns das Wiehengebirge.

"Das ist ein Gefühl von Freiheit", sagt Frank Fährenkämper. Stimmt: kein Motorengeräusch, keine Flugzeughülle, nur das Geräusch des Windes. In einiger Entfernung ziehen drei Bussarde ihre Kreise. Ich habe das Gefühl, dass sie mich ebenso interessiert begutachten wie ich sie. In rund 250 Metern schweben wir mittlerweile. Mir kommen die Liedzeilen des Sängers Reinhard Mey in den Sinn: "Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein".Ganz unrecht hat er damit nicht.

Der Pilot hat Fluggerät und Passagier im Griff.
Der Pilot hat Fluggerät und Passagier im Griff.

"Geflogen wird, sobald das Wetter passt", erzählt mir Fährenkämper, während wir in Richtung Wiehengebirge fliegen. Von den Startstrecken kann ganzjährig geflogen werden - wenn der Wind stimmt. Eine Cummulus-Bewölkung, im Volksmund "Schäfchenwolken" genannt, bedeutet meist ideale Startbedingungen.

Bis auf eine Höhe von 2.500 Metern sind einige Flieger des Vereins bereits aufgestiegen. Eine Höhe, die bei mir ein mulmiges Gefühl auslöst - passionierten Gleitschirmfliegern geht hingegen das Herz auf. "Axel Finke, einer unserer Flieger hat es sogar bis nach Günthersleben bei Gotha geschafft", hat mir Mehnert vor dem Start erzählt. Das sind rund 213 Kilometer Luftlinie. Fast sieben Stunden war Finke unterwegs. Frank Fährenkämper geht heute allerdings nicht auf große Reise. "Das ist immer so eine Sache mit dem zurückkommen." Gelandet werden darf nämlich überall. "Wer Glück hat, landet in der Nähe eines Bahnhofes, bei weniger Glück muss getrampt werden. Oder man hat tolerante Freunde, die einen abholen."

Mit Hilfe der Steuerleinen schwenkt Fährenkämper mal nach links, mal nach rechts. Auch in der Luft zu stehen ist kein Problem. Nach einer guten Viertelstunde sinkt er schließlich langsam zurück zum Erdboden. Schwungvoll geht es in eine letzte Linkskurve, dann setzt er uns sanft auf dem Boden ab. Die Kraft des Windes zieht den Schirm noch einige Schritte nach hinten, dann ist es vorbei.

Ich bin ich heilfroh, wieder festen Boden unter mir zu spüren. Und doch: Ich würde es sofort wieder tun.