Gegen das Vergessen in Lübbecke: Stadt gedenkt der NS-Opfer

Lübbecke. Es ist ein zentraler Platz im Herzen Lübbeckes. Wo am Samstag rund 300 Menschen eine Schweigeminute an die Opfer des Holocaust einlegten, loderten vor 86 Jahren die Flammen. Es dürften damals wohl auch johlende Männer in braunen Uniformen vor Ort gewesen sein. Sie hatten die Lübbecker jüdischen Glaubens schon seit Jahren drangsaliert und am 9. November 1938 brannten sie die Lübbecker Synagoge nieder. Mit der Pogromnacht gab es im damaligen Deutschen Reich das Fanal zum millionenfachen Mord an Menschen jüdischen Glaubens. Auch in Lübbecke. 86 Jahre später erinnerten am Platz der Synagoge rund 300 Menschen an die Opfer des Nazi-Terrors. Sie hatten zuvor einen Weg der Erinnerung beschritten. In vielen Orten ist am Wochenende an die Pogromnacht vom 9. November 1938 erinnert worden. Am Samstag gedachten die Menschen in Lübbecke der Opfer des NS-Terrors. Am Sonntagabend taten das dann zahlreiche Menschen in Rahden. Die Rahdener Synagoge war am 10. November 1938 niedergebrannt worden. In Lübbecke hatten Stadtarchivarin Christel Droste und der Vorbereitungskreis einen &bdquo;Weg der Erinnerung“ vorbereitet, der vom Andreas-Gemeindehaus über die Feuerrenne, den Geistwall und die Max-Lazarus-Straße zum Platz der Synagoge führte. Es war eine würdige und bewegende Gedenkfeier, die die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Lübbecke und benachbarten Orten erlebten. Es war eine Gedenk-Veranstaltung, die zum Nachdenken anregt. Erste NS-Kundgebung in Lübbecke war 1924 Die erste Kundgebung der Nazis in Lübbecke liegt genau 100 Jahre zurück. An die NS-Kundgebung aus dem Jahr 1924 wird das Team des Stadtarchivs in der neuen Ausgabe der &bdquo;Zeitensprünge“ erinnern. Die aktuellen &bdquo;Zeitensprünge“ befassen sich mit allem, was 1924 in Lübbecke geschah. Die Ortsgruppe der NSDAP in Lübbecke wurde 1930 gegründet, merkte Stadtarchivarin Christel Droste an. Danach hätten die Nazis bald immer größere Wahlerfolge verzeichnet. Schülerinnen und Schüler des Wittekind-Gymnasiums, der Stadtschule und der Berufskolleg-Standorte Lübbecke und Espelkamp hatten den &bdquo;Weg der Erinnerung“ unter das Motto &bdquo;Fluchtgeschichten“ gestellt. Sie erinnerten an die Schicksale der Menschen, die ab 1933 vor den Nazis fliehen mussten, sie erinnerten an die Menschen, die von den Nazis ermordet wurden. Sie erinnerten aber auch an aktuelle Fluchtgeschichten, denn in Europa gibt es wieder einen Krieg. Mit dem &bdquo;Weg der Begegnung“ wurde am Samstag ein Bogen gespannt von den damaligen Ereignissen bis in unsere Tage. Im Andreas-Gemeindehaus eröffneten Schülerinnen und Schüler des Wittekind-Gymnasiums den &bdquo;Weg der Erinnerung“ mit Musik. Im Text zu dem 1982 komponierten Stück &bdquo;Highland Cathedral“ heißt es unter anderem: &bdquo;Lasst uns als Freunde zusammenstehen. In dieser Freundschaft echte Werte sehn. Spüre Vertrauen, wo der Zweifel wohnt und du wirst mit Liebe reich belohnt“. Eine solche Einstellung, so merkten es die Jugendlichen an, hätten in den 1930er-Jahren viele Menschen von ihren Nachbarn und Freunden erhofft. Aber es gab sie viel zu selten gegenüber Menschen, die wegen ihrer Religion oder politischen Überzeugung von den Nazis verfolgt und ermordet wurden. Drangsalierung, Boykott und infame &bdquo;Sühneleistung“ Wie das vor Ort erfolgte, dazu hatten die Jugendlichen mit Hilfe des Stadtarchivs Fotos zusammengestellt und erinnerten an Aufmärsche der NSDAP in Lübbecke. Sie erinnerten an das Drangsalieren Lübbecker jüdischen Glaubens – beispielhaft mit Verweis auf den Boykott des einst angesehenen Geschäftes Weinberg. Sie erinnerten an die Nürnberger Rassegesetze von 1935, die Menschen jüdischen Glaubens zu rechtlosen Menschen machten. Sie erinnerten an die furchtbaren Folgen dieses Rassenwahns – auch vor Ort. Kantor Max Lazarus, der als Lehrer auch in der einstigen jüdischen Gemeinde Levern unterrichtet hatte, musste zwangsweise den zusätzlichen Namen Isaak tragen. Die Jugendlichen erinnerten an die Ausschreitungen der Pogromnacht 1938 – und daran, dass das NS-Regime als infame Maßnahme den Opfern dafür auch noch &bdquo;Sühneleistungen“ auferlegte. &bdquo;Wir haben uns im Unterricht gefragt, ab welchem Punkt ein Mensch lieber fliehen möchte, als in seiner gewohnten Heimat zu bleiben“, merkten die Jugendlichen an. Sie erinnerten daran, dass Menschen jüdischen Glaubens aus Lübbecke in benachbarte europäische Länder flohen – wo sie dann mit dem Einmarsch der Wehrmacht in der Falle saßen. Manchen gelang dagegen die Flucht ins Vereinigte Königreich, in die Vereinigten Staaten oder nach Palästina. Ab wann flieht ein Mensch lieber? Diese Frage wird viele Gäste der Gedenk-Veranstaltung bewegt haben. An der Feuerrenne erinnerten Schülerinnen und Schüler der Stadtschule an die Familie Hurwitz. Ernst und Gertrud Hurwitz gelang die Flucht zunächst nach Amsterdam. 1986 hatten sie in einem Interview geschildert, wie sie schließlich in die Schweiz flohen. Aus diesem Interview zitierten die Jugendlichen. Das Ehepaar Hurwitz lebte immer mit der Angst, entdeckt zu werden. Das Paar wurde bestohlen, aber es gab auch Menschen, die ihm halfen. Ernst und Gertrud Hurwitz überlebten. Ihre Eltern, die das Paar Anfang 1939 in die vermeintlich sicheren Niederlande geholt hatte, starben im Vernichtungslager. &bdquo;Natürlich war die Not groß, doch die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt“, hatte Ernst Hurwitz in dem Interview gesagt. Einige Mitglieder der Familie Hurwitz überlebten, andere wurden von den Nazis ermordet. &bdquo;Fremde sind wir nun im Heimatort“ &bdquo;Die Schicksale der Familie Hurwitz waren Schicksale, die damals Millionen Menschen in ähnlicher Weise erlitten“, sagten die Jugendlichen. &bdquo;Und doch war keines wie das eines anderen Menschen, denn jeder Mensch ist einzigartig und doch konnte und kann jeder kleine Augenblick über Leben und Tod für den jeweiligen Menschen entscheiden.“ Junge Menschen des Berufskollegs aus Espelkamp erinnerten am Platz der Synagoge an Schicksale von Lübbeckern jüdischen Glaubens. Sie nannten die Namen derer, denen die Flucht gelang und die überlebten. Sie nannten die Namen derer, die ermordet wurden. Immer verbunden damit, das Alter des jeweiligen Menschen zum Zeitpunkt des Synagogenbrandes zu nennen. Die Jugendlichen zitierten die jüdische Schriftstellerin Mascha Kaléko, die bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs aus dem damals russisch besetzten Polen nach Berlin flüchtete – und dann 1938 nach New York floh. &bdquo;Fremde sind wir nun im Heimatort. Nur das ,Weh’, es blieb. Das ,Heim’ ist fort“, lauten einige Zeilen des Gedichts von Mascha Kaléko, aus dem die Jugendlichen zitierten. Ernst Bloch sei der einzige Lübbecker jüdischen Glaubens gewesen, der nach Kriegsende nach Lübbecke zurückkehrte, sagte Christel Droste. Seine Mutter wurde im KZ Auschwitz umgebracht, Ernst Bloch überlebte. Er arbeitete nach Mai 1945 zunächst für die Briten, dann bei den Stadtwerken und der Stadt Lübbecke. Anfang der 1970er-Jahre starb er. Ernst Bloch stellte nach Angaben Drostes die erste Tafel auf, die am heutigen Platz der Synagoge an den von Nazis gelegten Brand erinnerte. Warum das Engagement der Jugendlichen wichtig ist Michael Wolski und Linda Selle von der IG Metall legten für den Deutschen Gewerkschaftsbund den Kranz am Mahnmal für die Synagoge nieder, bei der Schweigeminute der 300 Menschen hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Anja Vehling musizierte danach einfühlsam und eine Schülerin des Berufskollegs berichtete anschließend über ihre Flucht aus der Ukraine und ihre Aufnahme in Deutschland. &bdquo;Wir wünschen uns Frieden auf dieser Erde, den Menschen eine Heimat, in der sie glücklich leben können. Und nie wieder Krieg“, schloss die Ukrainerin Daria ihre sehr persönliche kleine Rede. Christel Droste war beeindruckt, was die Schülerinnen und Schüler für den &bdquo;Weg der Erinnerung“ erarbeitet hatten. Diese Anerkennung werden alle teilen, die den Weg mitgingen. Das Engagement der jungen Menschen ist auch deshalb so wichtig, weil sie mit ihren Beiträgen deutlich gemacht haben, dass die Nazi-Verbrechen nicht weit weg geschahen, sondern auch hier vor Ort. Sie haben deutlich gemacht, dass Menschen, die eben noch geachtete Nachbarn und Freunde waren, über Nacht zu Rechtlosen wurden. Die Jugendlichen haben mit ihrem Engagement für den &bdquo;Weg der Erinnerung“ auch deutlich gemahnt, dass so etwas nie wieder passieren darf.

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