80 Jahre Kriegsende: Als Nachbarn im Lübbecker Land zu rechtlosem Freiwild wurden

Lübbecker Land. Viele Menschen im damaligen Deutschen Reich waren Ende Januar 1933 regelrecht im Rausch: Ihr sogenannter &bdquo;Führer“ war vom greisen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt worden. Die braunen Horden marschierten mit Fackeln am Abend des 30. Januar 1933 durch das Brandenburger Tor. Vorbei an einem Mann, der ihnen von einem Balkon herab zuwinkte. Es war der Auftakt für eine Barbarei, die es niemals zuvor in der Geschichte gab. Es war der Auftakt für einen Weltenbrand nie zuvor gekannten Ausmaßes. Ende Januar 1933 hatten sie ihr Ziel erreicht: Die Nazis hatten die Weimarer Republik zerstört. Was von den Hitler-Faschisten als &bdquo;Machtergreifung“ gefeiert wurde, war in Wirklichkeit eine &bdquo;Machterschleichung“, denn die Nazis hatten sich teilweise der Instrumente des demokratischen Staates bedient. Recht früh fiel das Nazi-Gedankengut auch im damaligen Landkreis Lübbecke auf fruchtbaren Boden. Wie schnell auch im heutigen Stemwede aus Nachbarn Täter wurden oder auch Opfer, das hat die Heimatpflege Stemwede in den vergangenen Jahren gemeinsam mit dem Stadtarchiv Lübbecke erarbeitet. Viele Menschen im damaligen Landkreis Lübbecke hatten es ganz besonders eilig, sich dem verbrecherischen NS-Regime anzudienen. Und das Regime machte es ihnen leicht. Am 27. Januar 1933 brannte der Reichstag in Berlin. Die Schuldigen standen für die Nazis im Handumdrehen fest: Kommunisten. Einen Tag später erließ Hindenburg die sogenannte &bdquo;Notverordnung zum Schutze von Volk und Staat“. Damit wurden elementare Grundrechte ausgeschaltet. Wie jedes Menschenrecht abgeschafft wurde Den Rest erledigten die Nazis dann am 24. März 1933 mit dem sogenannten &bdquo;Ermächtigungsgesetz“, mit dem die Nazi-Regierung Gesetze ohne Zustimmung des Reichspräsidenten, des Reichstages und des Reichsrates erlassen konnte. Gegen die Selbstabschaffung des Parlaments stimmte nur die SPD. Deren Abgeordneter Josef Felder schrieb nach dem Krieg im Buch &bdquo;Warum ich Nein sagte“ eindrucksvoll, warum die SPD und er dagegen stimmten. Mit den &bdquo;Nürnberger Gesetzen“ wurden dann im September die eben noch geachteten Mitbürger jüdischen Glaubens zu rechtlosem Freiwild. Bei den später folgenden &bdquo;Arisierungen“ machten viele Menschen auch im Landkreis Lübbecke &bdquo;Reibach“. Wobei man Reibach wohl nicht nennen durfte, entstammt der Begriff doch dem Jiddischen oder dem Rotwelschen. Lesen Sie auch: Bombenangriff auf Löhne vor 80 Jahren: So erinnern sich Zeitzeugen Ganz schnell saßen die Nazi-Verbrecher im Landkreis Lübbecke ganz schnell im Sattel. Wie schnell das ging und welche Folgen das hatte, das zeigte im Herbst 2023 eine Ausstellung in Stemwede. Wie das Gift des Nationalsozialismus wirkte &bdquo;Einige waren Nachbarn. . .“ war eine Ausstellung des United States Holocaust Memorial Museums, die von der Stemweder Heimatpflege mit einer lokalen Ausstellung ergänzt wurde. Die Ausstellung zu einem Thema, das auch im Lübbecker Land lange totgeschwiegen wurde, stieß auf großes Interesse. Das hatte auch der Stemweder Gemeindeheimatpfleger Tobias Seeger beobachtet. &bdquo;Ohne die Ehrenamtlichen wäre das nicht möglich gewesen“, würdigte Tobias Seeger deren Beitrag zu der lokalen Ausstellung. Hunderte Menschen hatten diese besondere Ausstellung besucht. Schulklassen zählten dazu, aber auch Großeltern mit ihren Enkeln, ganze Familien oder Vereine aus Stemwede und umzu. Jung und Alt waren zu Gast, hatte Seeger beobachtet. Sehr anschaulich vermittelte die Ausstellung, wie das Gift des Nationalsozialismus nicht nur in den großen Städten des damaligen Deutschen Reiches wirkte, sondern auch vor Ort in den Dörfern in der heutigen Gemeinde Stemwede. Rahdener malte den &bdquo;Tag von Potsdam“ Am 5. März 1933 inszenierten die Nazis den sogenannten &bdquo;Tag von Potsdam“, einen Staatsakt zur Eröffnung des am 5. März 1933 gewählten Reichstages. Gefeiert wurde das als &bdquo;Versöhnung des alten mit dem neuen Deutschland“. Ein einziger Maler durfte den Handschlag zwischen Adolf Hitler und dem greisen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg malen: der aus Rahden stammende Kunstmaler Carl Langhorst, dem später die Rahdener Ehrenbürgerwürde verliehen wurde. So wie Carl Langhorst ein überzeugter Nationalsozialist war, so waren auch die Mitglieder der Gemeindevertretung Drohne überzeugte Nazis: Schon im Frühjahr 1933 verlieh die damals selbstständige Gemeinde Drohne Adolf Hitler die Ehrenbürgerwürde. Überschwänglich priesen die damaligen Gemeindevertreter den Reichskanzler als den &bdquo;Herold des neuen Deutschlands“. Wenige Wochen später gab es Post aus Berlin: Hitler nahm die Ehrenbürgerwürde an. Lesen Sie auch: Bombenhagel vor 80 Jahren - Der Luftangriff, der Löhne in Trümmer legte In der Ausstellung gab es auch Hinweise, wo sich was ereignete in den Orten im heutigen Stemwede. Sei es die Ehrenbürgerwürde für Hitler in Drohne, das Kriegsgefangenenlager Nr. 401 in Arrenkamp, HJ-Lager in Oppenwehe oder Levern oder die berüchtigte Gebietsführerschule &bdquo;Langemarck“ für die Hitler-Jugend im damaligen Nazi-Gau Westfalen im Schloss Haldem. Sterilisation unter Zwang nur wegen Taubheit Die Nazi-Ideologie reichte in jedes Dorf, sie durchdrang das öffentliche Leben und sie drang bis in das Innerste des Privatlebens vor. Da war die 14-Jährige, die ihre Nachbarn denunziert, weil die eine schwarz-weiß-rote Reichfahne zeigen, statt der Hakenkreuzfahne. Da war aber auch die Zwangs-Sterilisation mit der Ankündigung in den gleichgeschalteten Zeitungen, die auf den Besuch des &bdquo;Landeskrüppelarztes für die Provinz Westfalen“ hinwiesen, der im Lübbecker Land in damals wie heute bekannten und teils nach wie vor existierenden Gaststätten kostenlose Untersuchungen anbot. &bdquo;Da sind die Leute selbst hingegangen oder sie haben Verwandte untersuchen lassen“, sagte Tobias Seeger. Zeitgleich waren die Lehrer angehalten, den Amtsverwaltungen die Kinder zu melden, die aus ihrer Sicht für eine Sterilisation infrage kommen. Die Ämter auch im heutigen Stemwede waren fester Teil der Verfolgungs- und Tötungsmaschinerie der Nazis. Aus dem damaligen Amt Dielingen-Wehdem ist die entsprechende Akte erhalten. Amtsbürgermeister Heinrich Zell machte laut einem Dokument sogar Nachmeldungen für Kinder, die von den Nazis unfruchtbar gemacht wurden. &bdquo;Minna aus Wehdem“ etwa, weil sie taubstumm war. &bdquo;Fritz aus Oppenwehe“ wurde die Taubheit zum Verhängnis, &bdquo;Minna aus Haldem“ wurde als &bdquo;schwachsinnig und verkrüppelt“ dargestellt. Die menschenverachtende Sprache der NS-Verbrecher spricht auch in einem Nachtrag Zells: Demnach solle &bdquo;Wilhelm aus Westrup“ unfruchtbar gemacht werden, weil er laut Nazi-Bürgermeister Zell &bdquo;geistig minderwertig“ sei. Leverner NS-Amtmann blieb sogar bis 1959 im Amt Die Meldungen gingen an das Gesundheitsamt des Kreises Lübbecke, das dem fanatischen Nazi-Landrat Kurt von Borries unterstand. Der Aufforderung, zur Sterilisation nach Herford zu reisen, mussten die Betroffenen nachkommen. Und als wäre das nicht perfide und abartig genug: Sie mussten alles selbst bezahlen. Die Akte aus Levern ist nach Angaben Seegers nicht erhalten. Amtsbürgermeister Karl Kuhlo war bei der Vernichtung von Hinweisen wohl gründlicher als Heinrich Zell. Kuhlo schadete seine menschenverachtende und der Unterstützung von Verbrechen dienende Aktivität in der Nazi-Zeit übrigens nicht: Er blieb bis 1959 in verantwortlicher Funktion im Amt Levern. So wie auch die fanatischen Nazis, Kreisleiter Ernst Meiring und Landrat Kurt von Borries, nie einen Tag hinter Gittern für ihre Untaten büßen mussten. Angeblich sollte ihnen laut Entscheid der Spruchkammer in Bielefeld kein Verbrechen gegen die Menschlichkeit nachweisbar sein. Geachtet lebte auch Karl Höcker nach dem Krieg im Lübbecker Land – wenngleich der aus Pr. Oldendorf stammende Adjutant von Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß wegen seiner Beteiligung am Holocaust später zu Haftstrafen verurteilt wurde. Lesen Sie auch: So können Herforder die Rolle ihrer Ahnen im Dritten Reich erforschen Erinnert wurde in der Stemweder Ausstellung an Mitbürger jüdischen Glaubens, denen zwangsweise die Namen &bdquo;Sara“ oder &bdquo;Israel“ zugewiesen wurden. Aus den eben noch geachteten Mitbürgern machten die Nazis Aussätzige und kriminalisierten sie als Volksfeinde – und gegen deren Deportation und Ermordung regte sich auch im heutigen Stemwede kein Widerstand. Nach 1945 verdrängten viele Menschen auch im heutigen Stemwede die Erinnerung an Mitbürger, die in den Konzentrationslagern ermordet wurden. Lübbecker Altenheim lehnte Aufnahme von Jüdin ab Wie die 1887 geborene Henriette Weidenbaum aus dem Amt Dielingen-Wehdem. Wegen einer Herzmuskelschwäche kam sie 1937 ins Krankenhaus. Sie wohnte zuvor bei einem nichtjüdischen Paar als Mieterin – zu großzügig, wie ein Arzt befand. Die Suche nach einem Platz im Pflegeheim war schwierig, das evangelische Altenheim Lübbecke lehnte eine Aufnahme Weidenbaums mit Rücksicht auf die NSDAP ab. Henriette Weidenbaum kam schließlich in ein jüdisches Altenheim nach Unna. Sie wurde später ins KZ Theresienstadt deportiert und umgebracht. Im KZ wurde auch das Ehepaar Coblenzer aus Dielingen getötet. In Wehdem demolierten Dorfbewohner zusammen mit Rahdener SA-Leuten in der Pogromnacht des 9. November 1938 Häuser von Bürgern jüdischen Glaubens. Eines wurde niedergebrannt. Bewohner wurden gezwungen, das Dorf zu verlassen. Von der einst blühenden jüdischen Gemeinde in Levern, denen Bürger aus den Ämtern Levern und Dielingen-Wehdem angehörten, blieben nach dem Holocaust nur Erinnerungen. Das mehrfach umgebaute Gebäude der Leverner Synagoge existiert noch. Letzte noch vorhandene Einrichtung der Gemeinde ist der Friedhof an der L770. Am 9. November 1938 brannten die Nazi-Horden die Synagoge in Lübbecke nieder. Die Rahdener Nazis, am 9. November noch in der Nachbarschaft randalierend, steckten die Rahdener Synagoge am 10. November 1938 an. Erbärmliches Verhalten des Stemweder Rates Der 9. November 1938 war das Fanal für den millionenfachen Mord an Menschen jüdischen Glaubens. Am 27. Januar 1945 befreite die sowjetische Armee das KZ Auschwitz. Der 27. Januar ist internationaler Holocaust-Gedenktag. Am 27. Januar 2024 hatte Stemwedes Bürgermeister Kai Abruszat zu einer Gedenkfeier anlässlich des Holocaust-Gedenktages eingeladen. Der dazu eingeladene Stemweder Rat lieferte ein erbärmliches Bild ab: Von den 33 Mitgliedern des Rates waren sehr wenige vertreten, unter ihnen selbst der Vertreter der AfD. Von der CDU als stärkster Fraktion war ein Vertreter anwesend. SPD und Grüne waren vertreten, von der FDP bis auf den von ihr gestellten Bürgermeister niemand. In Rahden wurden in den vorigen Jahren Stolpersteine durch den Künstler Gunter Demnig verlegt – als einziger Kommune im damaligen Landkreis Lübbecke. Gerade im lokalen Teil der Stemweder Ausstellung war zu sehen, wie der Nationalsozialismus auf dem Dorf ablief: die strukturelle Unterdrückung, die bis ins Privatleben drängte.

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