Update: Staatsanwaltschaft klagt vier leitende Bad Oeynhausener Wittekindshof-Mitarbeiter an

Bad Oeynhausen. Drei Jahre nach der Durchsuchung des Wittekindshofs hat die Staatsanwaltschaft Bielefeld ihre Anklageschrift vorgestellt. Der leitende Staatsanwalt Christopher York klagt vier Angestellte, darunter einen Arzt, wegen teils schwerer Straftaten im Zusammenhang mit der Betreuung behinderter Menschen an. Es geht um zahlreiche Fälle von Freiheitsberaubung, gefährliche Körperverletzung durch den Einsatz von Tränengas und um die illegale Gabe eines Medikaments, das den Geschlechtstrieb unterdrückt. Letzteres soll ein Arzt des Wittekindshofs ohne richterliche Prüfung verordnet haben. Von ursprünglich 165 Beschuldigten in diesem Mammutverfahren bleiben vorerst Anklagen gegen vier leitende Angestellte übrig. Diese vier sollen sich laut Staatsanwaltschaft demnächst vorm Landgericht Bielefeld verantworten. Keiner der Beschuldigten hat sich bisher gegenüber den Ermittlern zur Sache geäußert. Die Anklage stützt sich auf die schriftliche Pflegedokumentation des Wittekindshofes über den Zeitraum Oktober 2014 bis September 2019. Die Ermittler haben über 300 Akten in dem Verfahren gesichtet, ausgewertet und zahlreiche Zeugen vernommen. Die Verfahren gegen 89 Beschuldigte, zumeist Pflegekräfte, wurden eingestellt. "In diesen Fällen gab es keinen hinreichenden Tatverdacht", sagt der leitende Staatsanwalt Christopher York am Donnerstag bei einer Pressekonferenz zur Vorstellung der Anklageschrift. 72 Verfahren, darunter sämtliche Verfahren gegen die durch Richter eingesetzten Betreuer der Bewohner, weitere Ärzte und Mitarbeiter des Wittekindshofes, sind aber noch offen. Der Vorwurf: Weggesperrt und ruhig gestellt Die Staatsanwaltschaft zählt 32 Geschädigte unter den betroffenen Bewohnern des Wittekindshofes. Zur Anklage kommen aber nur die besonders schwerwiegenden Fälle von 18 Geschädigten, in denen es um Freiheitsentzug, gefährliche Körperverletzung und in einem Fall um illegale Medikamentengabe geht. Angestoßen wurden die Ermittlungen im Mai 2019 durch die Strafanzeige der Schwester und gesetzliche Betreuerin eines ehemaligen Wittekindshof-Bewohners. Sie bemerkte, dass ihr Bruder offenbar über elf Monate lang in ein neun Quadratmeter großes Zimmer ohne Freigang eingesperrt und mit Medikamenten ruhig gestellt wurde. Die Rechtsvertreter von drei Geschädigten haben der Staatsanwaltschaft bislang Interesse an einer Nebenklage signalisiert. Angeklagt werden der Leiter des Geschäftsbereichs 4, ein 58-jähriger Diakon, seine 55-jährige Stellvertreterin sowie die Bereichsleiterin für Heilpädagogische Intensiv-Betreuung (HPI). Im Geschäftsbereich 4 hat der Wittekindshof damals Menschen mit herausforderndem und intensivem Betreuungsbedarf untergebracht. Dieser Bereich ist inzwischen aufgelöst, die Bewohner sind auf mehrere Einrichtungen verteilt worden. Chemische Kastration nach sexuellen Übergriffen Angeklagt ist außerdem ein Psychiater wegen Beihilfe zur Freiheitsberaubung, überwiegend durch Unterlassen. Der 69-jährige Arzt soll außerdem das Medikament Salvacyl einem sexuell übergriffigen Bewohner des Wittekindshofes verschrieben haben. Die chemische Kastration habe Osteoporose und Depressionen bei dem Patienten ausgelöst, so die Anklage, trotzdem sei die Behandlung fortgeführt worden. Der Patient sei aber weder aufgeklärt worden, noch habe es einen richterlichen Beschluss dazu gegeben. Stattdessen erfolgte die Medikamentengabe offenbar auf schriftliche Anordnung des Diakons und durch ein Rezept des Arztes. Der Betroffene habe daraufhin insgesamt 29 Depot-Spritzen erhalten. Die Folge: Osteoporose und Depressionen. Die Staatsanwaltschaft wirft dem 58-jährigen leitenden Diakon Freiheitsentzug in 210 Fällen vor, darunter 18 Fälle von schwerem Freiheitsentzug, was in der Regel mit einer Haftstrafe von mindestens einem Jahr bestraft wird. Der Diakon soll den Freiheitsentzug schriftlich angeordnet haben. Dabei geht es um das Einsperren von Bewohnern, was viele 1.000 Mal geschehen sein soll. Eine der Anordnungen des Diakons soll dazu geführt haben, dass ein Bewohner über drei Jahre hinweg mit Unterbrechungen immer wieder in sein Zimmer eingeschlossen wurde. Gleiches gelte für den sogenannten "Time-Out-Raum", ein Zimmer, in das die Bewohner auf seine Anordnung eingeschlossen wurden, wenn Pflegekräfte nicht weiter wussten. Für diesen Freiheitsentzug fehlte dem Wittekindshof nach Ansicht der Staatsanwaltschaft in den angeklagten Fällen jegliche Grundlage. "Der Wittekindshof ist eine heilpädagogische Einrichtung", sagt York. Sie dürfe nur bei eigengefährdendem Verhalten Bewohner einsperren. Bei Fremdgefährdung sei in einer heilpädagogischen Einrichtung Freiheitsentzug jedoch nicht erlaubt. York: "Das geht nur auf der Grundlage des Psychiatriegesetzes." Als pädagogische Strafmaßnahme womöglich wegen ungebührlichen Verhaltens ist Freiheitsentzug immer illegal. Gleiches gilt nach Ansicht des Staatsanwalts für den Einsatz von Tränengas in der heilpädagogischen Einrichtung. "Einzige Ausnahme ist das Notwehrrecht", sagt York: "Aber da muss man höllisch aufpassen." Der leitende Diakon habe den Tränengas-Einsatz schriftlich angeordnet. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm deshalb gefährliche Körperverletzung in zehn Fällen durch Tränengas vor. Die stellvertretende Geschäftsbereichsleiterin wird wegen Freiheitsberaubung in 125 Fällen durch Unterlassen angeklagt. Außerdem legt der Staatsanwalt ihr fünf Mal schwere Freiheitsberaubung zur Last und neun Fälle von gefährlicher Körperverletzung mit Tränengas durch Unterlassen. York: "Sie hatte Kenntnis, hat aber nicht eingegriffen." Die Bereichsleiterin der Heilpädagogischen Intensivbetreuung wird in 76 Fällen wegen Anordnung von Freiheitsentzug, darunter 17 schweren Fällen, angeklagt. In drei Fällen soll sie die Verwendung von Tränengas selbst angeordnet haben. Der Psychiater soll sich neben der illegalen Medikamentengabe auch in 68 Fällen von Beihilfe zum Freiheitsentzug überwiegend durch Unterlassen strafbar gemacht haben. Vier Fälle bewertet der Staatsanwalt als schweren Freiheitsentzug, weil der über eine Woche angedauert habe. Einige Mitarbeiter waren gegen Einsperren und Tränengas Gegen den Freiheitsentzug und das Tränengas soll es auch Widerstand aus den Reihen der Wittekindshof-Angestellten gegeben haben, bestätigt der Staatsanwalt. Diese Meinung habe sich jedoch nicht durchsetzen können: "Der Geschäftsbereich wurde offenbar autark und hierarchisch geführt." Nach dem Bekanntwerden der Ermittlungen gegen den Wittekindshof wurde auch Kritik an der Aufsichtsbehörde, dem Kreis Minden-Lübbecke, laut. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft richten sich allerdings nur gegen Beschäftigte der diakonischen Einrichtung, gegen ihre Betreuer und wenige Ärzte, nicht gegen die Heimaufsicht. York: "Da haben wir keine Anhaltspunkte für strafbares Handeln." Die Ermittlungskommission "Herbst" hat mit 70 Polizisten in Zivil am Donnerstag, 3. Oktober 2019, die Räumlichkeiten des Wittekindshofs im Bad Oeynhausener Ortsteil Volmerdingsen durchsucht und zahlreiche Patientenzimmer kontrolliert. Die Beamten beschlagnahmten zahlreiche Akten und elektronische Daten. Die Auswertung hat fast drei Jahre gedauert. Im Geschäftsbereich 4 haben zuletzt 157 Angestellte 121 Bewohner mit herausforderndem Verhalten betreut. In den 16 Standorten des Wittekindshofes werden 2.500 Menschen von 3.600 Angestellten beim täglichen Leben unterstützt. Das Landgericht Bielefeld muss jetzt entscheiden, ob die Anklage zugelassen wird und es zum Gerichtsprozess kommt.

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