Bad Oeynhausen. Der Strafprozess gegen vier ehemalige leitende Mitarbeiter des Wittekindshofs steht vor der Eröffnung. Es geht um zahlreiche Fälle von Freiheitsberaubung von Bewohnern der Behinderteneinrichtung, gefährliche Körperverletzung durch den Einsatz von Tränengas und um die illegale Gabe eines Medikaments, das den Geschlechtstrieb unterdrückt. Letzteres soll ein Arzt des Wittekindshofs ohne richterliche Prüfung verordnet haben.
Seit Spätsommer 2022 liegt die 350 Seiten starke Anklageschrift dem Gericht vor, das zunächst über die Zulassung der öffentlichen Verhandlung entscheidet. Dieses Zwischenverfahren steht vor dem Abschluss. „Die Prüfung ist schon weit fortgeschritten“, erklärt Markus Seip, stellvertretender Pressesprecher des Gerichts, auf Nachfrage der NW.
Allerdings ist es noch nicht abgeschlossen. Die zuständige Erste Große Strafkammer beachte die Bedeutung des Verfahrens für die Heilerziehungspflege und entscheide, ob und in welchem Umfang das Verfahren zu eröffnen sei. Seip: „Die Kammer strebt eine zeitnahe Entscheidung an.“ Sie soll noch in diesem Jahr fallen.
Schwester eines Wittekindshofbewohners löste Ermittlungen aus
Das bedeutet jedoch nicht, dass der Prozess, sofern die Anklage zulässig ist, auch noch in diesem Jahr beginnen kann. Zunächst müssten Termine mit allen Beteiligten organisiert und abgestimmt und Zeugen geladen werden. Es wäre womöglich das umfangreichste Strafverfahren am Landgericht Bielefeld seit Langem. „Vergleichbar vielleicht bloß mit dem Balsam-Prozess“, so Seip.
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Die Staatsanwaltschaft hat - wie das Gericht - ebenfalls drei Jahre über der Anklageschrift gesessen. Auslöser der Ermittlungen war 2019 die Klage der Schwester eines Wittekindshofbewohners. Ihr damals 28-jähriger Bruder sei elf Monate lang in einem neun Quadratmeter großen Zimmer ohne Freigang und Fernseher, vollgepumpt mit Medikamenten, eingesperrt worden.
Der junge Mann ist geistig behindert und war seit frühester Kindheit in verschiedenen Einrichtungen untergebracht, zuletzt im Wittekindshof. Er soll auch dort immer wieder durch herausforderndes Verhalten aufgefallen sein. So soll er unter anderem seinen Betreuern weggelaufen sein, im Alkoholrausch den Entschluss zum Suizid gefasst haben und ein leer stehendes Haus in Bad Oeynhausen in Brand gesteckt haben.
Vorwürfe stürzten Wittekindshof in schwere Krise
Der Wittekindshof ist in ganz NRW eine der wenigen Einrichtungen, die Klienten mit solch herausforderndem Verhalten aufnimmt. Das Land NRW hat eine Expertenkommission eingesetzt, die neue Wege der Betreuung aufzeigen soll. Die Rolle der Aufsichtsbehörden sollte ebenfalls aufgearbeitet werden.
Die Klienten des Wittekindshofes wurden in einem „Heilpädogischen Intensivbereich“ betreut. Die Alternative dazu wäre die Einweisung in die forensische Psychiatrie gewesen. Der damalige Stiftungsvorstand Dierk Starnitzke zeigte sich „schockiert“ über die Vorwürfe und versprach „schonungslose Aufklärung“. Der Wittekindshof löste den betroffenen Geschäftsbereich 4 im Sommer 2020 auf. Die damals 121 Bewohner wurden auf andere Bereiche mit erfahrenen verteilt und das Betreuungskonzept neu entworfen. Die Vorwürfe stürzten den Wittekindshof in eine schwere Krise. Die 3.900 Mitarbeiter sahen sich einem Generalverdacht ausgesetzt.
Die Anklage der Staatsanwaltschaft stützt sich auf die schriftliche Pflegedokumentation des Wittekindshofes im Zeitraum von Oktober 2014 bis September 2019 sowie auf Zeugenaussagen. Im Oktober 2019 durchsuchten zahlreiche Einsatzkräfte den „Heilpädagogischen Intensivbereich“ und stellten Aktenmaterial sicher.
18 besonders schwerwiegende Fälle kommen zur Anklage

Von ursprünglich 165 Beschuldigten in diesem Mammutverfahren bleiben nach letztem Stand der Ermittlungen die Anklagen gegen die vier damals leitenden Angestellten übrig. Sie haben sich gegenüber den Ermittlern nicht zur Sache geäußert. Es handelt sich um den ehemaligen Geschäftsbereichsleiter, seine Stellvertreterin, eine Bereichsleiterin sowie einen Arzt.
Die Verfahren gegen 89 Beschuldigte, zumeist Pflegekräfte, wurden eingestellt. „In diesen Fällen gab es keinen hinreichenden Tatverdacht“, erklärte der leitende Staatsanwalt Christopher York im Sommer 2022 in einer Pressekonferenz. Später wurden weitere Verfahren gegen die gesetzlichen Betreuer der Bewohner, weitere Ärzte und Mitarbeiter des Wittekindshofes eingestellt. Jüngst auch gegen die letzten zwölf Beschuldigten in diesem Komplex (siehe Infokasten).
Die Staatsanwaltschaft zählt 32 Geschädigte unter den betroffenen Bewohnern des Wittekindshofes. Zur Anklage kommen aber nur die besonders schwerwiegenden Fälle von 18 Menschen, in denen es um Freiheitsentzug, gefährliche Körperverletzung und in einem Fall auch um chemische Kastration, die Unterdrückung des Sexualtriebs durch Medikamente, geht.
Warum dauert die Prüfung des Wittekindshof-Falls so lange?
Die Prüfung der Anklagepunkte ist auch für erfahrene Strafrechtler eine Herausforderung. Allerdings wechselte der Vorsitzende Richter der zuständigen Kammer im vergangenen Jahr an den Bundesgerichtshof. Das hat das Verfahren nicht beschleunigt.
„Der Aktenumfang ist gewaltig“, so Gerichtssprecher Seip. Die zuständige Kammer wurde deshalb mit einer „zusätzlichen Arbeitskraft ausgestattet“, so der Gerichtssprecher. „Eine Richterkollegin ist ausschließlich mit diesem Fall befasst“, sagt Seip. Die vier Berufsrichter müssen nicht nur die 350 Seiten der Anklage lesen, sondern auch 30.000 Seiten digitalisiertes Aktenmaterial und die juristische Argumentation der Ankläger unter die Lupe nehmen.
Die Tatvorwürfe seien „vielschichtig“ und „in jedem Einzelfall“ zu prüfen. So geht es bereits im Zwischenverfahren um die Frage, inwiefern die Opfer überhaupt die Möglichkeit hatten, freiheitseinschränkenden Maßnahmen zuzustimmen. Angesichts der Verfassung der Betroffenen sei das mitunter von der Tagesform abhängig, so der Gerichtssprecher. Die Kammer müsse deshalb jeden Einzelfall im zeitlichen Verlauf und im Zusammenhang betrachten. Die Richter ziehen dazu auch weitere Fallakten zurate, die nicht unmittelbar Teil der Anklage sind.
350 Seiten Anklageschrift müssten in einem Prozess verlesen werden
Wie viele Prozesstage für dieses Mammutverfahren womöglich angesetzt werden können, ist offen. „Das akribisch geführte Zwischenverfahren dient insbesondere dem Ziel einer straff und zügig durchzuführenden Hauptverhandlung“, so Gerichtssprecher Seip.
Sollte der Prozess tatsächlich eröffnet werden, müssen Beobachter schon am ersten Verhandlungstag auf besonders talentierte Stimmen aus der Staatsanwaltschaft hoffen. Die 350 Seiten der Anklageschrift - das ist ein mitteldicker Roman - müssen vollständig verlesen werden. Das schreibt die Strafprozessordnung vor.
INFORMATION
Ermittlungen gegen die letzten zwölf Beschuldigten eingestellt
Bad Oeynhausen (ulf). Die Ermittlungen gegen den Wittekindshof sind abgeschlossen. Die Staatsanwaltschaft Bielefeld hat auch die letzten anhängigen Verfahren eingestellt. Ursprünglich wurde gegen 165 Personen ermittelt. Zuletzt ging es noch um zwölf Beschuldigte, denen aber „eine Beteiligung an illegalen Freiheitsberaubungen nicht hinreichend sicher nachgewiesen“ werden konnten, so Pressesprecher Christopher York auf Anfrage der NW.
Ob während der vergangenen sechs Jahre vergleichbare Fälle aus Einrichtungen der Eingliederungshilfe zu Ermittlungen geführt haben, ist der Bielefelder Staatsanwaltschaft nicht bekannt. Dazu würden keine Statistiken geführt. Eine Recherche dazu würde einen unzumutbaren Aufwand erfordern. Bei der Bielefelder Strafverfolgungsbehörde habe es jedoch bislang, so York, „keine vom Umfang her vergleichbare Verfahren“ gegeben.