Wittekindshof-Vorwürfe: "Der Druck auf die Mitarbeiter war existenzbedrohend"

Herr Starnitzke, Herr Mohrmann, seit Mai 2019 gehen Polizei und Staatsanwaltschaft Vorwürfen nach, dass im Bereich der Heilpädagogischen Intensivbetreuung Klienten des Wittekindshofes Opfer von Körperverletzungen und Freiheitsberaubung geworden sein sollen. Wie groß schätzen Sie den Schaden ein, der dadurch dem Wittekindshof entstanden ist? DIERK STARNITZKE:Wir haben ohne Zweifel Vertrauen verloren, das wieder aufgebaut werden muss. Die Vorwürfe nehmen wir sehr ernst, es darf nicht zu Versäumnissen und gesetzlichen Verstößen im Umgang mit den Menschen kommen, die wir unterstützen. Man muss an dieser Stelle aber auch sagen, dass sich die Beschuldigten aus verschiedenen Gruppierungen rekrutieren. Das sind nicht nur Mitarbeitende des Wittekindshofes, sondern auch andere Beteiligte. Welche sind das? STARNITZKE: Da waren Ärzte beteiligt, rechtliche Betreuer und auch Klienten. Das ist ja auch charakteristisch für diesen anspruchsvollen Handlungsbereich, dass da sehr viele Leute zusammen agieren müssen. Können Sie sagen, wie viele der 145 Beschuldigten Mitarbeiter des Wittekindshofes sind? STARNITZKE: Das können wir nicht genau quantifizieren. MARCO MOHRMANN: Da haben wir keinen Gesamtüberblick. Was für mich auch eines der Probleme ist. Es muss geklärt werden, was passiert. Im Grunde werden alle unsere gut 3.500 Mitarbeiter angesprochen, die sich diesem Ermittlungsverfahren ausgesetzt sehen, auch wenn sie selbst gar nicht beteiligt sind. Solch ein Generalverdacht ist schwierig. Was können Sie denn als Vorstand tun, um ihre Mitarbeiter vor solch einem Generalverdacht, womöglich gar einer Vorverurteilung, zu schützen? MOHRMANN: Wir versuchen unsere Mitarbeiter zu stärken, die jeden Tag in ihrer Arbeit mit diesen Vorwürfen umgehen müssen. Die Mitarbeitenden haben verdient, dass man ihnen respektvoll gegenübertritt. Und gerade das passiert durch einen solchen Generalverdacht nicht. Das führt zu großen Belastungen. Welche Reaktionen gab es von den Bewohnern Ihrer Einrichtung oder deren Betreuern? STARNITZKE: Wir waren überrascht und auch sehr froh, dass wir aus der Riege der rechtlichen Betreuer eigentlich sehr ermutigende Rückmeldungen bekommen haben. Man ist dort sehr froh, dass die Angehörigen und Klienten bei uns gut betreut werden. Da gibt es eine große Ermunterung und Zustimmung dazu, dass der Wittekindshof diese Arbeit der Betreuung leistet – auch direkt aus dem betroffenen Bereich. Haben Sie das direkte Gespräch mit den möglichen Opfern oder deren Angehörigen gesucht? STARNITZKE: Ich wohne in unmittelbarer Nachbarschaft des ehemaligen Geschäftsbereichs 4 und habe natürlich auch Kontakt zu den Bewohnerinnen und Bewohnern sowie den Mitarbeitenden. Gerade auch angesichts dieser großen räumlichen und persönlichen Nähe: Wie ist es zu erklären, dass Sie nichts von diesen Vorwürfen gewusst haben, was in diesem Bereich vorgeht? STARNITZKE:Wir sind immer noch in der Aufarbeitung und prüfen das genau. Es sind sämtliche interne und externe Kontrollorgane von der Heimaufsicht bis zum Landschaftsverband in dem Bereich gewesen. Ich persönlich bin sehr betroffen über die Vorwürfe. Mit dem Chor, zu dem Klienten aus dem Bereich gehören, habe ich einen Auftritt zum Aschermittwochsempfang vorbereitet. Und im letzten Jahresfest-Gottesdienst habe ich mit ihnen die Predigt gestaltet und sie vor 800 Gästen gefragt: Was bedeutet für euch Frieden, was Unfrieden? MOHRMANN: Damit kann man schlecht umgehen. Das ist vielleicht auch ein Mangel, dass wir in der Vergangenheit über diese Arbeitsbereiche nicht öffentlich gesprochen haben. Wenn man jetzt in der Öffentlichkeit von diesen Zwangsmaßnahmen hört, allein, wenn man von Fesselungen und Fixierungen von Menschen mit Behinderung hört, ist man ja schon bestürzt. Viele wissen nicht, dass es sich um Menschen handelt, die extrem fremd- und selbstgefährdendes Verhalten zeigen können. Deshalb haben sie in diesen Bereichen immer einen gewissen Teil solcher Zwangsmaßnahmen, die dann jeweils richterlich angeordnet sind. Heißt das, dass Sie in der Vergangenheit offener über den Umgang mit den Menschen hätten sprechen müssen die ein solch herausforderndes Verhalten zeigen? MOHRMANN: Wir merken an der Reaktion in der Öffentlichkeit, dass man allein mit Vokabeln wie Fixierung schon ein Stirnrunzeln verursacht. Da müssen wir sagen: Es ist leider Tatsache, dass es Menschen gibt, die so hochgradig unterstützungsbedürftig sind, dass man sie sogar vor sich selbst schützen und mit Zwangsmaßnahmen vorgehen muss. STARNITZKE: Wir merken jetzt, dass es dringend angesagt ist, dass die Gesellschaft auch eine Vorstellung davon bekommt, welche Menschen wir hier unterstützen – ohne sie zu stigmatisieren. Und hier hat der Wittekindshof in den vergangenen Jahren ein ganz ausgeprägtes Angebot entwickelt. Wir haben weit über 100 heilpädagogische Intensivplätze, mit denen wir etwa ein Viertel des gesamten Bedarfs in Westfalen-Lippe abdecken. Angesichts dieses Falles ist es uns ein Anliegen, zu sagen: Bitte, Gesellschaft, mach dir klar, diese Menschen gibt es zu Hunderten und Tausenden. Und es braucht Betreuungsformen, in denen das unter schwierigsten und härtesten Bedingungen geleistet wird. Da wollen wir in die Offensive gehen. Es ist Zeit, dass wir eine öffentliche Debatte darüber bekommen, wie diese Menschen mit solch hochgradigem Unterstützungsbedarf vernünftig betreut werden können. Das wurde bislang weitgehend tabuisiert. Auch der Gesundheitsausschuss des Düsseldorfer Landtages hat sich mit den Vorgängen im Wittekindshof befasst. In der Sitzung im Januar wurde auch darüber diskutiert, ob das System zur Betreuung von Menschen, die solch ein extrem herausforderndes Verhalten zeigen, verändert werden muss. Ist der Wittekindshof die richtige Einrichtung, um solche Menschen zu betreuen? STARNITZKE: Aus unserer Sicht ja. Wir sind gerade dabei, für unsere anspruchsvollsten Klienten zusammen mit unserem Kostenträger, dem Landschaftsverband, ein hochindividualisiertes Konzept zur Betreuung zu entwickeln. Da haben wir uns als Wittekindshof an die Spitze der Entwicklung gesetzt. Darüber brauchen wir auch einen öffentlichen Diskurs. Derzeit gibt es offenbar nur drei Möglichkeiten: Entweder die Menschen werden in einer Einrichtung der Eingliederungshilfe – wie dem Wittekindshof – versorgt, oder sie werden in einer geschlossenen Psychiatrie oder gar in einer forensischen Klinik, die ja eigentlich für psychisch kranke Straftäter gedacht ist, untergebracht. Brauchen wir eine vierte Möglichkeit der Betreuung? STARNITZKE: Unsere jetzigen Entwicklungen gehen in eine etwas andere Richtung. Wir versuchen, innerhalb der Eingliederungshilfe extrem passgenaue Betreuungskonzepte zu entwickeln, die uns erlauben, auch Menschen mit extrem herausforderndem Verhalten rechtssicher und verlässlich zu betreuen. Wir haben da mit sechs Leuten angefangen, die wirklich den allerhöchsten Betreuungsbedarf haben. Dabei begleiten uns unabhängige Experten des Landschaftsverbandes. Das werden wir mit 18 weiteren Klienten fortsetzen und Schritt für Schritt auf die gesamte Stiftung ausweiten. Was wird sich dann dadurch konkret ändern? STARNITZKE: Wir hatten bislang hoch spezialisierte Bereiche, in der Gruppen betreut wurden. Wir schalten jetzt um von diesem Bereichsdenken auf ein stark auf die Person zentriertes Denken. Grundsätzlich wird für alle Klienten und Klientinnen nach den Vorgaben des Bundesteilhabegesetzes ein Gesamtplanverfahren durchgeführt, um den individuellen Unterstützungsbedarf für die verschiedenen Lebensbereiche zu ermitteln und das dazu passende Gesamtangebot zu schaffen. Es wird genau ermittelt, welche individuelle Unterstützung wo gewünscht und benötigt wird. Die Umsetzung dieser Neuausrichtung erfolgt unmittelbar und soll möglichst bis Anfang 2022 abgeschlossen sein. Können Sie ein Beispiel schildern, wie ich mir die Veränderung konkret vorstellen muss? STARNITZKE: Wir haben für einen Klienten ein ganz individuelles Wohnsetting geschaffen, in einem eigenen Haus, in dem er einen Betreuungsrahmen findet, der seinen Bedürfnissen gerecht wird. Ein Betreuter, ein Haus? STARNITZKE: Es ist möglich, dass wir hier noch weitere Menschen mit ähnlichem Unterstützungsbedarf unterbringen. Aber das sind die extremen Fälle. Im Düsseldorfer Gesundheitsministerium will eine unabhängige Expertenkommission die Vorfälle aufarbeiten. Fühlen Sie sich dadurch unter Druck gesetzt? MOHRMANN: Nein, im Gegenteil. Das ist genau das, was wir wollen. Das eine sind die Ermittlungen, deren Ergebnisse wir abwarten müssen. Man darf aber nicht vergessen, dass es ein grundsätzliches Problem der Betreuung von Menschen mit herausforderndem Verhalten gibt. Die meisten Träger meiden eine Aufnahme. Weil es eben hochgradig schwierig ist. Und weil man da auch mit Gewalt zu tun hat. Nicht als Entschuldigung, nicht als Rechtfertigung. Aber wenn sich nun eine Expertenkommission damit auseinandersetzt, dann ist das genau das, was wir wollen. Lassen Sie uns noch mal zur Ausgangsfrage zurückkehren: Haben Sie jemals die Befürchtung gehabt, dass die Vorwürfe, die möglichen Fehler, die gemacht wurden, und die Ermittlungen den Wittekindshof in seinem Bestand gefährden könnten? STARNITZKE: In erster Linie geht es nicht um den Wittekindshof, sondern um die Menschen, die wir unterstützten und die uns ihr Vertrauen entgegengebracht haben. Wie in unserem Leitbild auch festschrieben ist, sind sie unser Auftraggeber. Deshalb tun wir alles in unserer Macht stehende, um jegliche Form von Übergriffen zu verhindern. Aber was an Druck auf die Mitarbeitenden durch die Vorwürfe entstanden ist, das war schon existenzbedrohend. Hat dieser Druck nachgelassen? STARNITZKE: Der besteht weiterhin, damit müssen wir leben. Wir versuchen redlich, uns weiterzuentwickeln, uns all den Vorwürfen vorbehaltlos zu stellen.

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