Bald 400 statt einst 2.000 Plätze am Bad Oeynhausener Wittekindshof - Was passiert mit dem Gelände?

Herr Zachow, zehn Jahre lang waren Sie stellvertretender Landrat im Kreis Marburg-Biedenkopf. Was hat Sie denn aus dem Hessischen hier an den Nordrand von Ostwestfalen verschlagen? Marian Zachow: Sehnsucht nach Ostwestfalen (lacht). Nein, in der Tat habe ich für mich immer gesagt: Ich mache nicht länger als zwei Amtszeiten. Das habe ich mir 2014 selber geschworen, als ich ins Amt als Erster Kreisbeigeordneter gekommen bin, weil ich festgestellt habe, dass das eine gute Zeitachse ist, bevor die Kreativität ausgeht. Meine Frau war seit mittlerweile drei Jahren in Bielefeld an der Universität, daher war klar, dass das Richtung Westen geht. Am Ende des Tages war es eine freudige Überraschung, eine Chance hier in Ostwestfalen, in Bad Oeynhausen, zu bekommen. Wir wohnen in Hiddenhausen, genau in der Mitte zwischen Bad Oeynhausen und Bielefeld. Hintergrund: Neuer Vorstand für Bad Oeynhausener Wittekindshof Sind diese zehn Jahre, die Sie gerade angesprochen haben, jetzt auch der Zeithorizont für Ihre Verweildauer hier im Wittekindshof? Nein, das würde ich nicht sagen. Mit 35 sollte man keine Planung für die nächsten 40 Jahre machen. Jetzt bin ich etwas älter und gesetzter und wenn der Wittekindshof Vertrauen in mich setzt, habe ich hier kein Verfallsdatum für mich definiert. Dass Sie hier in Ostwestfalen gelandet sind, ist also zum guten Teil Ihrer Frau geschuldet. Was hat Sie denn bewegt zu dem Wechsel aus Politik und Verwaltung hin zu Diakonie und Behindertenbetreuung? Ich hatte den Wunsch, nach zehn Jahren Kommunalpolitik in einen anderen Bereich zu gehen. Wenn man gelernter Pfarrer ist, kommt automatisch die Diakonie als Möglichkeit infrage. Und ich wollte wieder näher an den Menschen dran sein. Ich hatte schon den Bezug zur Eingliederungshilfe als Abgeordneter in der Verbandsversammlung des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, im Prinzip dem, was der Landschaftsversammlung des LWL hier entspricht. Was hat Sie in Ihren ersten 100 Tagen im Wittekindshof überrascht? Überrascht hat mich, wie unterschiedlich unsere Sozialräume Ostwestfalen, Ruhrgebiet und Münsterland in 18 verschiedenen Städten sind. Jeden Tag macht es mir Freude, dass ich unfassbar engagierte Kolleginnen und Kollegen habe, es ist eine wirklich tolle Arbeitsatmosphäre. Positiv überrascht hat mich, mit wie viel Offenheit ich aufgenommen worden bin, obwohl ich Quereinsteiger aus Hessen bin. Gab es denn auch etwas, was Sie enttäuscht hat? Bis jetzt noch nichts. Nachdem kurz vor meiner Ankunft die große Baustelle in Volmerdingsen aufgehoben worden ist, sodass ich wieder mit dem Bus zur Arbeit fahren kann, hat mich noch nicht mal die öffentliche Verkehrsanbindung enttäuscht. Im Ernst? Sie kommen von Hiddenhausen mit dem Bus? Es kommt drauf an, aber zwei bis dreimal pro Woche komme ich schon mit Bus und Bahn. Wenn alles pünktlich läuft, fahre ich tatsächlich um 7.54 Uhr los und bin um 8.36 Uhr am Obsthof Kossack. Aber das klappt halt leider nicht immer. .responsive23-UeOVMcdB7rc6dYld-bar-vertical-schwerbehinderte-menschen-in { width: 100%; padding-top: 100%; } @media (max-width: 600px) { .responsive23-UeOVMcdB7rc6dYld-bar-vertical-schwerbehinderte-menschen-in { padding-top: 100%; } } @media (max-width: 360px) { .responsive23-UeOVMcdB7rc6dYld-bar-vertical-schwerbehinderte-menschen-in { padding-top: 142.86%; } } Herr Zachow, seit Oktober 2019 ermitteln Polizei und Staatsanwaltschaft gegen den Wittekindshof, gegen vier der Hauptangeklagten ist inzwischen Anklage wegen Freiheitsberaubung und Medikamentenmissbrauchs erhoben worden. Einen Termin, wann die Verfahren beginnen sollen, gibt es noch nicht. Welche Rolle haben diese Vorwürfe und hat dieses Verfahren in Ihrer Überlegung, zum Wittekindshof als Vorstand zu wechseln, gespielt? Zunächst einmal: Es wurde und wird nicht gegen die Stiftung als solche ermittelt, sondern unter anderem gegen ehemalige Mitarbeitende. Aber die Ermittlungen haben für mich keine Rolle gespielt bei meiner Bewerbung. Ich habe sie natürlich wahrgenommen, aber sie haben mich weder beeindruckt noch verängstigt. Hintergrund: Ermittlungen und Gerichtsverfahren gegen Wittekindshof Die Ermittlungen 2019 haben wir zum Anlass genommen, Strukturen, Prozesse und Arbeitsformen grundsätzlich zu reflektieren. Gewaltprävention ist ein zentrales Thema, ebenso das Empowerment von Klientinnen und Klienten. Aber auch das Bewusstsein bei den Kolleginnen und Kollegen, immer nach pädagogischen Wegen zu suchen, wurde gestärkt. Man kann also sagen: Da ist unheimlich viel passiert, daher kommt es immer mal wieder vor, dass andere Einrichtungen fragen: Können wir auf eure Konzepte, eure Erfahrungen, Abläufe und Materialien zugreifen? Welche weiteren Konsequenzen sind denn aus Ihrer Sicht in Zukunft noch notwendig? Das ist weniger eine Frage, die sich direkt im Zusammenhang mit den Vorkommnissen von 2019 stellt. Sondern Inklusion heißt, Personenzentrierung konsequent zu leben und in allen Lebenslagen – auch in schwierigen Situationen – die Perspektive und Wünsche der Klientinnen und Klienten in den Mittelpunkt zu stellen. Wesentlich ist auch das Verdienst der Vorstände Marco Mohrmann und Dierk Starnitzke sowie der anderen Führungskräfte, dieses Denken bei den Kolleginnen und Kollegen – und eben auch bei den Klientinnen und Klienten – sehr tief verankert zu haben – und das nicht erst seit 2019. Um auf diesem Pfad zu bleiben, ist es entscheidend, diese Wachsamkeit und dieses Bewusstsein zu pflegen. Das heißt also auch, es werden nicht nur die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sensibilisiert für das Thema Gewaltprävention, sondern auch Ihre Klientinnen und Klienten? Absolut. Das Stichwort Empowerment der Klientinnen und Klienten ist etwas, das mir sehr am Herzen liegt. Ich bin der Auffassung, dass es vor allem durch konsequentes Sensibilisieren und &bdquo;Dranbleiben“ gelingt. Ich habe das große Privileg, auf sehr gute, fundierte Vorarbeiten zugreifen zu können. Es geht darum, dass auch unsere Klientinnen und Klienten wissen, dass sie sich nicht alles gefallen lassen dürfen und wo sie sich beschweren können. Aber, bei aller sicher notwendigen Selbstkritik ist mir auch eines wichtig: Der Wittekindshof hat in ganz Nordrhein-Westfalen 3900 Mitarbeitende, die mit großem Engagement für die Menschen und für die Inklusion arbeiten. Darauf sind Marco Mohrmann und ich stolz – und wir lassen nicht zu, dass aufgrund der Ermittlungen gegen einige Mitarbeitende vor etlichen Jahren übersehen wird, was unsere Kolleginnen und Kollegen Tag für Tag für eine tolle Arbeit leisten. Wir – und womöglich teilen Sie diese Einschätzung – registrieren, dass der politische Mainstream in Deutschland in den vergangenen Jahren deutlich konservativer geworden ist. Ja, manche sprechen gar davon, dass wir vor autoritären Verhältnissen stehen. Welche Auswirkungen hat eine solche politische Entwicklung auf den Umgang mit Menschen mit Behinderung, auf die Arbeit des Wittekindshofes? Zunächst mal gehöre ich zu den Menschen, die grundsätzlich optimistisch sind. Für mich ist das Glas immer eher halb voll als halb leer. Ich sehe vor allen Dingen die überwiegende Mehrheit der Menschen, die sich klar zu einer pluralistischen, vielfältigen Demokratie bekennt. Aber bevor das hier allzu optimistisch wird, möchte ich daran erinnern, dass Sie – natürlich provokativ – beim Aschermittwochsempfang die Frage in den Raum gestellt haben: Kommt nach dem Thema Remigration das Thema Reinklusion? Das war und ist eine wirklich große Sorge. Wenn man sich diesen Mechanismus beim Begriff der &bdquo;Remigration“ anguckt: Man hat aus der populistischen Ecke heraus geschaut, wo sind schwache Gruppen in der Bevölkerung, Benachteiligte, die keine Lobby haben. Dann hat man sie zum Gegenstand einer solchen populistischen Kampagne gemacht. So, und dann ist es natürlich nicht mehr sehr weit entfernt zu sagen: Wo sind denn andere gesellschaftliche Gruppen, die keine starke Lobby haben? Und dann ist die Befürchtung groß, dass Menschen mit Beeinträchtigung die nächste Zielgruppe sind und re-exkludiert, also wieder ausgeschlossen, werden. Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an Ein Beitrag geteilt von Diakonische Stiftung Wittekindshof (@wittekindshof) Und was kann man denn dagegen tun? Das Wichtigste ist, überall deutlich zu machen, was Inklusion uns bisher gebracht hat und noch bringen wird. Wenn man sich vorstellt, in was für Sonderwelten Menschen mit Beeinträchtigung gelebt haben, in ganz Deutschland und auch im Wittekindshof. Vor 25 Jahren war das hier noch eine abgegrenzte Sonderwelt, zum Teil mit Mehrbettzimmern, zum Teil fast ohne Kontakt nach außen. Heute erleben die Menschen in Volmerdingsen, Bad Oeynhausen, Lübbecke, Herne, Gronau, Ahaus und anderswo ganz selbstverständlich Menschen mit Beeinträchtigung mitten in der Gesellschaft. Doch das ist nicht selbstverständlich – es ist gelebte Inklusion, die wir sichtbar machen, verteidigen und weiterentwickeln müssen. Sie haben bei Ihrer Amtseinführung gesagt, dass Sie an der neuen Aufgabe das strategische, unternehmerische und politische Management in der Unternehmensleitung reize. Was bedeutet denn politisches Management im Wittekindshof? In vielen Antrittsgesprächen mit Landräten, Bürgermeistern, Sozialdezernenten ging es auch um die Frage: Können wir es schaffen, aus dem Thema Inklusion im ländlichen Raum eine Win-Win-Situation zu machen? Zum Beispiel Wohnungsleerstand, Bevölkerungsrückgang und Inklusion zusammen zu denken, einen Ort dadurch zu beleben, dass man inklusive Projekte macht. Da erfahre ich viel Unterstützung von politischer Seite, das ist vielleicht auch Grund für meinen Optimismus. Wir wollen und wir müssen noch weitere 170 Plätze hier vom Gründungsgelände verlagern in die Region, das wird jetzt im Fokus stehen. Deswegen habe ich in letzter Zeit viele Gespräche geführt und große Unterstützung gefunden. Lesen Sie auch: Bad Oeynhausener mit Beeinträchtigung erfüllt sich Traum von &bdquo;richtigem“ Job Nach meiner Kenntnis haben derzeit noch ungefähr 600 Menschen hier auf dem Stiftungsgelände ihr Zuhause, vor 25 Jahren waren es noch 2000. Aktuell sind es noch etwa 550. Wenn davon jetzt noch mal 170 fortziehen, was bleibt dann noch hier in Volmerdingsen? Also um hier keine Unruhe zu verbreiten: Wir wollen langfristig, also in den nächsten 15 Jahren weitere Plätze verlagern. Es wird aber niemand gegen seinen Willen umziehen. Es werden andernorts Plätze geschaffen, der ein oder andere oder die eine oder andere hat ausdrücklich den Wunsch, dort hinzuziehen. Aber es werden hier tatsächlich weniger Plätze, so um die 400 werden auf dem Gründungsgelände bleiben. Das ist dann sozusagen der harte Kern von Menschen mit besonderem, sehr intensivem Unterstützungsbedarf? Wir haben eine Reihe von Klientinnen und Klienten, die das besondere Setting hier brauchen. Aus technischen Gründen, zum Beispiel wegen besonderer Vorkehrungen für die Beatmung. Das bedeutet aber natürlich auch, wir müssen eine Perspektive für das Gründungsgelände entwickeln. Wie es hier weitergeht, dafür haben Marco Mohrmann und Dierk Starnitzke mit der Sozialraumentwicklung seit 2009 gute Vorarbeit geleistet. Wir haben die Chance, uns hier weiterzuentwickeln, wir wollen eine Wohnbebauung etablieren. Die Vision von meinem Vorstandskollegen Marco Mohrmann und mir ist, auch im Altbaubestand günstige oder preiswerte Wohnungen zu etablieren sowie Firmen und Büros anzusiedeln. Das wäre ein Beitrag gegen die Wohnraumknappheit und zur Attraktivitätssteigerung des Standorts Bad Oeynhausen. Und schließlich können wir das Gründungsgelände als attraktiven Startort für Wanderungen im Wiehengebirge entwickeln. Wir bieten hier ja im Sommer auch Getränke im &bdquo;Biergarten“ an. Sie haben einen Biergarten? Den kenne ich nicht. Sie kommen halt immer zur falschen Jahreszeit! Aber im Sommer baut unser KIZ auf dem Dorfplatz Tische und Sitzgelegenheiten auf und das ist dann auch in der Regel recht trubelig. Das ist kein Biergarten im klassischen Sinne, aber Kaffee, Kuchen, Pommes und Kaltgetränke gibt es samstags von 14 bis 18 und sonntags von 11 bis 16.30 Uhr schon. Welche Aufgaben hat die Diakonie noch im 21. Jahrhundert, welche Zukunft? Dass Diakonie noch eine Perspektive hat, merken wir daran, dass wir viele sehr motivierte Mitarbeitende haben. Und zwar nicht aus einer originär kirchlichen oder gar ostwestfälischen Frömmigkeit heraus, sondern weil sie wissen, dass sie bei einem diakonischen Träger eine komplett andere Arbeitsgrundlage haben. Es geht nicht in erster Linie ums Geld, sondern um eine Haltung zum Menschen. Und die wird von den Kolleginnen und Kollegen gelebt, egal was ihre religiöse Grundlage ist. Unser Anspruch ist, für Menschen da zu sein. Das machen wir mit einer ganzheitlichen Perspektive sowohl auf Klientinnen und Klienten als auch auf Mitarbeitende. 📱News direkt aufs Smartphone: Kostenloser WhatsApp-Kanal der NW Kreis Minden-Lübbecke Zahlt sich diese Besonderheit der Diakonie als Arbeitgeber denn auch bei der Suche nach Mitarbeitern aus? Wir merken schon, dass das ein wichtiger Grund ist, warum sich Menschen bei uns bewerben. Übrigens nicht nur im klassischen Bereich am Menschen, sondern auch in der Verwaltung. Das ist nur leider nicht das Allheilmittel bei der Personalgewinnung, weil der Personalkuchen insgesamt kleiner wird. Aber ich glaube schon, dass das ein Wettbewerbsvorteil ist. Ich möchte aber gern noch einen anderen Punkt platzieren: Wir möchten die Geschichte des Wittekindshofes weiter wissenschaftlich erforschen. Statt unsere Chronik, die in den frühen 1970er Jahren endet, mit den 70er und 80er Jahren fortzusetzen, wollen wir zunächst die letzten drei Jahrzehnte von Historikern untersuchen lassen. Dieser Zeitraum markiert den großen Umbruch in der diakonischen inklusionspolitischen Landschaft von Fürsorge zu Selbstbestimmung und Personenzentrierung.

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