
Leopoldshöhe. Der Raum im Erzählcafé des Sozialen Netzwerks Leopoldshöhe war prall gefüllt. Die Gäste saßen gespannt da, denn sie wussten: Gleich würde Lothar Gieselmann, in Leopoldshöhe besser bekannt als der „Brotkutscher“, seine Anekdoten über die alten Zeiten zum Besten geben. So etwas hatte Organisator Detlev Gadow noch nicht erlebt.
Lothar Gieselmann ist ein Leopoldshöher Urgestein, kennt viele Menschen und hat die ganze Entwicklung der Gemeinde erlebt. 48 Jahre lang verkaufte er Brot und Brötchen aus seiner eigenen Bäckerei. Anfangs fuhr er mit dem Rad und großem Korb jeden Morgen bis spät in den Abend von Haus zu Haus. Später gab es einen Lloyd LT, mit dem er täglich rund 200 Brötchen für Geschäfte, Kindergärten, Firmen und Privatleute auslieferte.
Gieselmann, mittlerweile über 80 Jahre alt, erlebte die letzten Jahre des Zweiten Weltkriegs, die Nachkriegszeit und das Wirtschaftswunder. Acht Jahre lang besuchte er die Volksschule und musste dabei die Strenge seiner Lehrerin „die Flora“ – besser bekannt als „Fräulein Koch“ – ertragen. Viele ältere Leopoldshöher erinnern sich noch mit Schrecken an diese Frau. Jeden Morgen mussten die Schüler ihre Fingernägel vorzeigen. Wurden dabei schwarze Ränder entdeckt, schlug sie mit dem Stock darauf. „Die Finger waren tagelang angeschwollen“, berichtete Gieselmann.
Sechs-Pfünder-Brote in der Woche
Seinen Weg ins Geschäftsleben startete Gieselmann mit einer Kaufmannslehre an der Handelsschule. Doch schon mit 17 Jahren packte er in der heimischen Bäckerei mit an. Seine Mutter betrieb einen kleinen Tante-Emma-Laden, sein Vater pachtete eine Bäckerei. „In der Woche gab es Sechs-Pfünder-Brote, am Wochenende Weißbrot und Brötchen.“
An seine erste Tour erinnert sich Gieselmann noch genau: Es ging nach Schuckenbaum zum Hof der Lütkehölters. Doch als er dort ankam, war niemand zu Hause – alle arbeiteten auf dem Feld. Verpackungen gab es damals nicht, also legte er das Brot kurzerhand in den Kuhstall. „Zehn Kühe standen da und schauten mich an“, erzählt er – und das Publikum lachte. Wenn Lothar Gieselmann das Brot auslieferte, kassierte er den „Backelohn“, damals etwa 30 Pfennige, und notierte alles in einem Buch. Abgerechnet wurde später – auf Vertrauensbasis. Mit 18 Jahren machte er seinen Führerschein und fuhr von fortan mit seinem Lloyd LT durchs Dorf.
Brotkutscher ist begnadeter Erzähler
Mit seinen Erzählungen weckte er gedankliche Bilder in den Köpfen des Publikums hervor – oft waren ein „Ja“ oder „Ja, genau“ zu hören. Und immer wieder Lachen. Gieselmann ist ein begnadeter Erzähler. Die Zuhörenden verstanden sofort, worauf er anspielte, und hatten die beschriebenen Szenen oder Personen direkt vor Augen.
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Auf seinen Touren habe er sie alle kennengelernt, erzählt er. Besonders erinnerte er sich an den großen Saal der Gaststätte Zur Post am Marktplatz. Dort gab es eine Bühne, und es wurden Veranstaltungen wie der Sängerball, der Sportlerball und der Karneval gefeiert. „Hier trafen sich die Vergnügungssüchtigen“, sagte der Brotkutscher. Jeden Dienstag brachte das „Landfilm Vlotho“ Kino ins Dorf. Schon damals lief vor den Filmen Werbung – darunter der Spruch „Kauf immer wieder bei Gieselmanns Frieda“. Diesen habe sich Rudi Strunk, der spätere ehrenamtliche Bürgermeister, ausgedacht.

Zum Erleichtern hinter den Vorhang
Nach dem Krieg kehrten viele bei Glietz ein, hauptsächlich Männer, wie Gieselmann sich erinnerte. Dort standen Tische mit Unterbau – extra für die Skatspieler. Im Sommer gab es Schnittchen mit Wurst und Gurke, im Winter Heißwürstchen. Das Wasser wurde hinter der Theke mit einem Tauchsieder erhitzt. Eine richtige Toilette gab es nicht, „nur eine Pissrinne mit Vorhang“, berichtete Gieselmann. Wenn dann doch mal eine Frau im Gastraum war, stellte der Wirt seine private Toilette zur Verfügung.
Gieselmann erinnerte an viele Geschichten rund um den Marktplatz. Nach dem Krieg sei er ein besonders schöner Ort gewesen, umgeben von Kastanienbäumen. Viele Zuhörende nickten und erinnerten sich an diese alte Bepflanzung. Der Marktplatz diente nicht nur als Treffpunkt, sondern auch als Sportplatz und Schulhof. Er selbst habe dort mit seiner Klasse geturnt – von dort seien auch viele Bälle in die Fensterscheiben geflogen.
Adolf Hitler in Leopoldshöhe zu Gast
Auch an ein dunkles Kapitel der Geschichte erinnerte Gieselmann: Sein Großvater war in Leopoldshöhe Ortsgruppenleiter der NSDAP und habe es geschafft, den späteren Diktator Adolf Hitler in den Ort zu holen. Dieser sprach in einem Zelt vor 3.500 Menschen. „Die Lipper haben dazu verholfen, dass Hitler an die Macht kam“, bemerkte Gieselmann.
Weitere Anekdoten folgten – von der 100-Jahr-Feier über die TÜV-Prüfungen und die Frühjahrskirmes auf dem Marktplatz bis hin zum Besuch der Traber-Gruppe. Umso bedauerlicher sei es, dass viele Veranstaltungen heute aus Sicherheitsgründen abgesagt werden, wie er kürzlich in der Zeitung gelesen habe.
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Brotkutscher ist kaum zu bremsen
Nach gut einer Stunde, kaum zu bremsen, fragte er schließlich in die Runde: „Wollt ihr noch eine?“ – „Ja!“, raunte es aus dem Publikum.
Zum Abschluss erzählte Gieselmann von einer besonderen Ehrung: Der Kreisverkehr an der Schötmarschen Straße wurde von seinen Freunden mit einem Schild „Lothar-Gieselmann-Kreisel“ getauft. Doch inzwischen ist das Schild verschwunden – vielleicht wurde es gestohlen, vermutet er. Dies sorgte für Unverständnis im Publikum. Wer es finde, dürfe sich gerne bei ihm melden. Der Brotkutscher würde sich freuen – und vielleicht gibt es zur Belohnung sogar ein frisches Brötchen.