Zeit zwischen den Weltkriegen

Acht Meilensteine aus Warburgs lebendiger Geschichte vor 100 Jahren

Museum im Stern: Inflation, Wohnungsnot, Karnevalstrubel, Gänsezucht, Obstbaumvereine und zwei Großbaustellen - ein Rückblick.

Alexander Schwerdtfeger-Klaus, Museumsleiter und Stadtarchivar, zeigt die originale Mandoline aus dem Warburg vor 100 Jahren. Der Vater der Leihgeberin und damalige heitere Mandolinenspieler fiel im Zweiten Weltkrieg an der Ostfront. „Wenn man eine solche Lebensgeschichte hört, schüttelt es auch mich als Historiker“, sagt Schwerdtfeger-Klaus. Das Liederbuch aus dem gesungen und gepielt wurde ist „Der kleine Rosengarten“ mit Volksliedern von Hermann Löns, Musik Fritz Jöde. ?Foto: Dieter Scholz | © Dieter Scholz

Dieter Scholz
30.11.2025 | 30.11.2025, 09:00

Warburg. Die Mandoline liegt noch auf dem Tisch. Sie wird in die Ausstellungsräume wandern. Museumsleiter Alexander Schwerdtfeger-Klaus hatte das in Ehren ergraute Instrument an den Anfang seines Überblicks über das Jahr 1925 in Warburg gesetzt. Eine Dame aus Neuburg an der Donau habe sich gemeldet und gefragt, ob er Interesse an der Mandoline ihres Vaters und Fotos aus den 1920er Jahren habe, die den Mandolinenclub zeigten. Hatte er. Weil die Dinge vom Geschehen in der Stadt vor 100 Jahren zeugen. „Ein Jahr mutiger Entscheidungen seitens der Stadtverordneten bei unruhigen politischen Umständen“, fasst der Stadtarchivar zusammen.

Die Mitte der „Goldenen Zwanziger“ in der Stadt an der Diemel: „Die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs und der Wirtschaftskrise waren handhabbarer geworden“, merkt Schwerdtfeger-Klaus zur Lage an. Auch das Leben im öffentlichen Bereich blühte wieder auf, ließ der Historiker im Vortrag, den er jüngst vor rund 30 interessierten Besucherinnen und Besuchern im Beyer-Saal des Museums im „Stern“ hielt, wissen. Das Vereins- und Kulturangebot sei breit gefächert gewesen, macht er auf „einige interessante Beobachtungen“ aufmerksam.

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Das Zentrum hatte in Warburg die Nase vorn

Die große Politik stieß auch in der ostwestfälischen Kleinstadt auf Widerhall. Während sich die frisch gewählte Reichsregierung in Berlin stabilisierte, wurden die Bürger erneut zur Wahl aufgerufen. „Ungeplant“, sagt Schwerdtfeger-Klaus. Am 28. Februar 1925 war Reichspräsident Friedrich Ebert verstorben, einen Monat später wurde ein Nachfolger gewählt. Im Wahlkampf lud die deutschnationale Volkspartei zur Versammlung in den „Desenberger Hof“ und zur Kundgebung nach Scherfede ein. Das „Warburger Kreisblatt“ wies dagegen auf ein Treffen des Zentrums und damit auf die eigene politische Ausrichtung hin. In der Stadt und im Kreis Warburg lag der Kandidat der Partei schon im ersten Wahlgang weit vorn. Doch wird Paul von Hindenburg neuer Reichspräsident.

Diemelbegradigung: Die Aufnahme aus dem Jahr 1925 zeigt Kranarbeiten am Flusslauf bei Warburg. - © Dieter Scholz
Diemelbegradigung: Die Aufnahme aus dem Jahr 1925 zeigt Kranarbeiten am Flusslauf bei Warburg. | © Dieter Scholz

Befürworter der Weimarer Republik sammelten sich im Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. Auch in Warburg hatte sich eine Ortsgruppe der Bewegung zum Schutz der demokratischen Republik gebildet. „Im Festkomitee zur Feier der Weimarer Verfassung, die im August in Kassel stattfand, engagierten sich mit dem Eisenbahner Gröschell und dem jüdischen Lehrer Julius Cohn sogar zwei Warburger.“

Mehr und mehr Autos im Warburger Stadtgebiet

In der Stadt war die Wohnungsnot ein großes Thema. Wohnungsamt und Mieteinigungsamt setzten sich zu gleichen Teilen aus Mieter- und Eigentümervertretern zusammen und bildeten in der Stadtverordnetenversammlung die zahlenmäßig größten Kommissionen. „Vor der bestehenden Wohnungsnot wenig verwunderlich“, sagt Schwerdtfeger-Klaus.

Dafür gab es mehr und mehr Kraftfahrzeuge in der Stadt: „Die Stadtverordneten genehmigten Ende Februar den Bau einer Benzinzapfstelle gegenüber der Post neben der Bedürfnisanstalt“, berichtet der Historiker. Eine weitere Anlage folgte am Paderborner Tor. An der Schere Lange Straße, heute Hauptstraße, Ecke Sternstraße stand schon eine Tankstelle.

Ein Problem war die fehlende Unterkunft für durchziehende Wanderer und Obdachlose. „Weder ein Ort noch eine Person zur Betreuung standen in Aussicht“, sagt Schwerdtfeger-Klaus. Wanderer wurden im Stadtgefängnis untergebracht. Bis die Stadt an der Unterstraße das Hiddessen-Haus von Metzgermeister Reineke erwarb. Der übernahm auch gleich die Leitung der Herberge und beantragte eine Genehmigung zum „Ausschank geistiger Getränke“.

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Die Diemel bei Warburg wird begradigt

Ein Beschluss, der lange nachwirkte: Die Lokalpolitiker entschieden den Ausbau der Diemel, der vor allem die Warburger Altstadt vor Hochwasser schützen sollte. „Die Kosten für die Begradigung des Flusslaufs wurden mit 360.000 Mark veranschlagt“, sagt der Stadtarchivar. Innerhalb von drei Jahren sollte die Diemel von der Germeter Brücke bis zur Brücke in den Warburger Diemelauen reguliert werden.

Weniger Diskussionen gab es unter den Stadtverordneten in der Frage der Übernahme der sogenannten verlängerten Wiesenbergstraße des Bauunternehmers Schulte. Der hatte den Wiesenberg vor dem Ersten Weltkrieg erschlossen. Dem basaltigen Ödland und der Felswand rückte er mit Dynamit zu Leibe, erschloss das Gebiet mit Wasser- und Kanalleitungen, ließ Straßen anlegen und schuf damit 20 Baugrundstücke.

Warburgs zögerlicher Wohnungsbau

„Zwar blieb die Einwohnerzahl Warburgs mit 6.612 Einwohnern stabil, doch änderte dies nichts am angespannten Wohnungsmarkt“, sagt der Stadtarchivar. Trotz bescheidener Fortschritte. „Ende 1924 lag die Zahl der Wohnstätten in der Stadt bei 746. In 1925 wurden zwölf Wohnhäuser mit 17 Wohnungen neu erbaut, nennt er Zahlen. Dagegen wurden die Arbeiten am Rohbau des Krankenhauses im Herbst 1925 eingestellt. Die notwendigen Darlehen hatten nicht beschafft werden können. Eine größere Baustelle war lediglich der Bau des Exerzitienhauses des Dominikanerklosters. Auch wurde die Kasselerstraße verbreitert und neu gepflastert. Inflation und hohe Zinsen: In den Bördedörfern war die private Bautätigkeit fast ganz zum Erliegen gekommen. Häuser, vor dem Krieg von einer Familie bewohnt, boten nun oftmals zwei Familien ein Zuhause.

Aus dem Familienalbum: Frauen und Männer aus dem Warburger Mandolinenclub 1925. Mit einem Kreuz ist der Vater der Mandolinen-Leihgeberin gekennzeichnet. Damals wohnte die Familie in der Warburger Altstadt. - © Dieter Scholz
Aus dem Familienalbum: Frauen und Männer aus dem Warburger Mandolinenclub 1925. Mit einem Kreuz ist der Vater der Mandolinen-Leihgeberin gekennzeichnet. Damals wohnte die Familie in der Warburger Altstadt. | © Dieter Scholz

Zu den Problemen der Stadt gehörte auch die Arbeitslosigkeit. Obwohl sich die wirtschaftliche Lage in der Stadt zu bessern versprach. „Vermehrt lassen sich Gründungen und Neueröffnungen verzeichnen“, sagt Schwerdfeger-Klaus. Wie zum Beispiel das Zigarren- und Tabakgeschäft von Franz Wulf oder die mechanische Reparaturwerkstatt für Nähmaschinen, Fahrräder und Kraftfahrzeuge von Wilhelm Kuhbrock oder das Putz- und Modewaren-Geschäft von Änne Vogedes. Auch im Café Eulenspiegel wurde fleißig renoviert und neu eröffnet.

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Landwirtschaftlich geprägt Börde

In der Börde spielte die Gänsezucht eine gewichtige Rolle. Im Bezirk Minden hatte der Kreis Warburg bei der Viehzählung 1922 mit 11.979 Gänsen an zweiter Stelle gelegen. Mehr Gänse gackerten nur im Altkreis Höxter. Doch bedrohte die Tollwut Mensch und Tier. Hunde mussten an die Leine, um einer Ansteckung, und die Halter einer empfindlichen Strafe zu entgehen.

„In fast allen Ortsteilen wurden Obstbaumvereine neu- oder wiedergegründet“, ist der Museumsleiter von seinen Recherchen überrascht. „Das in den Vereinen vermittelte Wissen führt zu einer verstärken Sensibilität und Pflege der Bäume.“ Die Bemühungen mündeten im Oktober 1925 in die erste Kreisobstausstellung. „Hamstermaus und Feldhamster“ nennt er als die größten Feinde der Obstbauern.

Reges Vereinsleben

Der Schachclub bot Lernabende an, der populärwissenschaftliche Verein nahm seine Aktivitäten wieder auf, auch der Stenografen-Verein war sehr aktiv. Neben den vielfältigen Möglichkeiten, in der Stadt gemeinschaftlich Sport zu treiben, förderten Kuren auf Norderney die Gesundheit der jüngsten Warburger.

Doch hatten viele Familien aufgrund der schwierigen Lebensbedingungen zu knapsen. Dennoch wurde nach vierjähriger Pause in Warburg wieder ein mehrtägiges Schützenfest gefeiert. Vaterländisch gesinnt nahm auch der Krieger- und Landwehrverein wieder am gesellschaftlichen Leben teil. Nachdem 1924 die Kriegerfestnachfeier aufgrund der schlechten Erntebedingungen ersatzlos ausgefallen war, richtete der Verein nun einen Ball im „Westfälischen Hof“ aus. Wegen des großen Andrangs sogar zwei Bälle. Im August folgte das Kriegerfest mit Schießwettbewerb, Festzügen, Polonaise und Ball. Doch fielen Teile der Feierlichkeiten buchstäblich ins Wasser, anhaltender Regen schränkte viele Programmpunkte ein.

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Die „wilden“ Zwanziger in warburg

Mitte der 1920er Jahre war in Warburg der Karneval ein beliebtes Fest. „Eine willkommene Ablenkung vom Alltag“, bewertet Schwerdtfeger-Klaus. Die Feuerwehr veranstaltete für Mitglieder und Familienangehörige einen Preismaskenball im Saal des „Westfälischen Hofes“. Die Casino-Gesellschaft lud zum Maskenball ebenso wie der Bürgerverein. Auch der Turnverein und die Sportfreunde luden zum bunten Trubel. Bälle lockten Tanzfreudige das ganze Jahr über in die Säle der Stadt. Ein Mode-Tanz-Zirkel wurde gegründet. Zum Tanzvergnügen lud auch der Verein der selbstständigen Kaufleute ein. Dagegen war vor einem Jahrhundert jegliches Schneevergnügen in der Stadt untersagt. Das Schlittenfahren zum Beispiel wurde mit 9 Mark oder gar Haft bestraft.

Konservatives Frauenbild

Ein Tischdeck- und Servierkurs für Frauen und Töchter vermittelt ein wenig emanzipiertes Frauenbild. Traditionell nahm dagegen das Kirchenjahr im Leben der Warburgerinnen und Warburger einen großen Raum ein. „Heute unvorstellbar: In Menne sollte sogar eine neue Kirchengemeinde gegründet werden.“ Die politische Gemeinde hatte die bestehende Kapelle erweitert und die Pfarrgemeinde ein Haus erworben, in das ein Vikar einzog. Im Sommer war in Warburg die neue Kapelle der Armen Schulschwestern auf der Hüffert feierlich eingeweiht worden.

Gehörte zum Zeitgeist vor 100 Jahren ein wahrzunehmender Antisemitismus? „Es gab Schändungen jüdischer Friedhöfe in Ossendorf und in Rhoden“, sagt Schwerdtfeger-Klaus. In Ossendorf war die Rede von „Burschen“ als Täter. Für Rhoden schreibt das Kreisblatt bereits von „Parteien Hass und Harder“.

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