Ukrainer in Enger und Spenge blicken zurück: Ein Jahr Krieg

Enger/Spenge. Am heutigen Freitag jährt sich der Ausbruch des Angriffskrieges gegen die Ukraine zum ersten Mal. Mittlerweile leben über eine Million Ukrainerinnen und Ukrainer in Deutschland, die vor Putins Krieg, Terror und Gewalt aus ihrer Heimat geflüchtet sind. Circa 400 Menschen davon leben in Enger und in Spenge: Sie gehen dort zur Schule, arbeiten, haben sich Freundeskreise aufgebaut. Doch wie ist die Situation nach einem Jahr in einem fremden Land? &bdquo;Odessa ist groß, Enger ist klein.“ So beschreibt Daniel seine Heimatstadt. Der Elfjährige lebt und lernt nun knapp ein Jahr in der Internationalen Klasse am Widukind-Gymnasium. Unter der Leitung von Katharina Röhs und Manuela Audisho lernt die Gruppe aus Elf- bis 16-Jährigen, aufgeteilt in zwei Klassen, nicht nur gemeinsam Deutsch, sondern auch fast alle anderen Fächer auf dem Lehrplan. &bdquo;Mittlerweile haben wir Routinen geschaffen, die es den Schülerinnen und Schülern im Schulalltag erleichtern“, erklärt Katharina Röhs. &bdquo;Am Anfang brauchten wir viele Regeln und erzieherische Maßnahmen, damit wir alle, trotz Sprachbarriere, gut zusammenfinden konnten.“ Von der Decke der Klassenräume hängen Lampions, Papierbuchstaben schmücken die Fenster. &bdquo;Wir haben die letzten Tage natürlich auch was zum Thema Karneval gemacht“, sagt Manuela Audisho. Schule in Deutschland unterscheide sich trotzdem von zu Hause: &bdquo;Das, was wir in Deutschland lernen, ist schwieriger als in der Ukraine“, stellt der 14-jährige Artem fest. Auch die Handynutzung im Unterricht sei strenger. &bdquo;In der Ukraine dürfen wir viel öfter an die Handys – auch in den Pausen“, erklärt seine Sitznachbarin Eva. Schwierigkeiten im Alltag Mittlerweile sind viele von ihnen in Sportvereinen und haben Freunde in den Regelklassen gefunden. Daniel spielt Fußball – er hat seit seiner Ankunft die Schüco-Arena und den Signal-Park in Dortmund besucht. Trotzdem gibt es immer noch Schwierigkeiten im Alltag: &bdquo;Die größte Herausforderung ist weiterhin, die ukrainischen Schülerinnen und Schüler zum Lernen und Mitmachen zu motivieren“, erklärt Audisho. Da die Zukunft in Deutschland für viele ungewiss ist, sei für viele schwer zu verstehen, welche Chancen sich durch einen regelmäßigen Schulbesuch für sie ermöglichen könnten – manchmal kommen einzelne Kinder wochenlang nicht zum Unterricht. &bdquo;Selbst wenn es nur ein Zuhause auf Zeit ist, ist der multikulturelle Einblick, den wir vermitteln können, eine große Bereicherung“, ergänzt Katharina Röhn. &bdquo;Die Angespanntheit der Eltern überträgt sich natürlich auch auf die Kinder“, erklärt sie weiter. &bdquo;Es sind andere Probleme als in den Regelklassen, wir müssen hier auf ganz andere Bedürfnisse Rücksicht nehmen“, sagt sie. Traumata der Flucht seien bei manchen Kindern im Schulalltag allgegenwärtig. Kordula Schimke, städtische Integrationskoordinatorin des &bdquo;Haus der Kulturen“ in Enger, kann sich gut an die ersten Tage nach Kriegsausbruch erinnern: &bdquo;Bei uns lief das Telefon heiß. Sehr viele Menschen boten Sach- und Geldspenden und natürlich auch Wohnraum an.“ Am Anfang sei es wichtig gewesen, Vertrauen aufzubauen: &bdquo;Insbesondere viele Kinder waren traumatisiert und ängstlich“, erzählt sie. Ohne helfende Hände geht es nicht Es sind ehrenamtliche Helferinnen und Helfer, die dafür sorgen, dass sich geflüchtete Menschen in den Kommunen einleben und zurechtfinden. Mittwochmittag reiht sich eine lange Schlange um das Gebäude des Kleinbahnhofmuseums. Gleich beginnt die Lebensmittelausgabe bei der Tafel. &bdquo;Wir haben unter unseren Kundinnen und Kunden mittlerweile circa 80 Prozent Geflüchtete aus der Ukraine“, berichtet Maria Stuke, Verantwortliche für Enger und Spenge bei der Tafel. Zusammen mit knapp zehn Helfenden versorgt sie jede Woche viele Menschen vor Ort mit Lebensmitteln. &bdquo;Es werden immer mehr Menschen, aber die Warenmenge bleibt gleich. Das ist ein großes Problem, denn wir sind an der Grenze unserer Kapazitäten angekommen“, erklärt sie. Ukrainische Geflüchtete haben in Deutschland Anspruch auf Sozialleistungen, wer diese bezieht, kann bei den Tafeln einkaufen. In Enger würden besonders viele alleinstehende Mütter kommen: &bdquo;Viele Ehemänner sind im Land geblieben und kämpfen. Wir haben viele Frauen hier zwischen 20 und 40 Jahren“, erklärt sie weiter. Im Moment haben sich die Organisationen wegen des zu hohen Andrangs zu einem Aufnahmestopp entschieden: &bdquo;Es tut uns weh, aber hatten keine andere Möglichkeit.“ An einer langen Tischtafel verräumen Maria Stuke und ihr Team Kisten mit Gemüse und Kartoffeln, sortieren Milch und Brot und stapeln Verpackungen. Alles geht Hand und Hand im kalten Kleinbahnhofmuseum, um die Menschen so gut es geht zu versorgen. &bdquo;Wir sind sehr dankbar für viele anonyme Spenden“, berichtet Stuke. &bdquo;Und unsere Kundinnen und Kunden sind es auch“, ergänzt Biggi Lemke aus dem Tafel-Team. Rest der Familie nachholen Vor der Tür warten die Kundinnen und Kunden darauf, dass es losgeht. Die 15-jährige Tanja und ihre Mutter Tatjana sind zwei von ihnen. &bdquo;Wir sind dankbar, dass Deutschland uns in so schwierigen Zeiten schützt“, erklärt Tanja. &bdquo;Ich würde den Rest unserer Familie gerne nachholen“, erzählt Tatjana. &bdquo;Ich möchte hierbleiben, in Sicherheit, und arbeiten.“ Ukrainische Geflüchtete, die eine Aufenthaltserlaubnis besitzen, dürfen im Gegensatz zu vielen anderen Asylsuchenden in Deutschland arbeiten und sogar selbstständig sein. Die Suche nach Arbeit gestalte sich für Tatjana wegen der Sprachbarriere jedoch schwierig. &bdquo;Ich vermisse mein Zuhause“, sagt die 15-jährige Tanja. Vor dem Kleinbahnhof in der Sonne drängeln sich immer mehr Menschen. Es wird sich umarmt, Tüten getauscht, schnell werden Texte in Handyübersetzer gesprochen oder getippt: &bdquo;Wir teilen uns mit 14 Personen eine Dusche.“ &bdquo;Es gibt teilweise keine Glühbirne, an wen müssen wir uns wenden?“ &bdquo;Unser A1-Sprachkurs endet, wie geht es weiter?“ Der Bedarf an Hilfe ist groß. Häufig wüssten die Menschen nicht, an wen sie sich für welche Anliegen wenden sollen. &bdquo;Es ist alles sehr unübersichtlich und Informationen ohne gutes Deutsch nicht zu finden“, berichtet ein Mann, der anonym bleiben möchte. Viele wohnen in kommunalen Unterkünften oder bei Verwanden. Ostwestfalen sei für sie mittlerweile eine Art Zuhause geworden, auch wenn viele ihre Familien und Wohnungen sehr vermissen. &bdquo;Wir sind dankbar und erwarten keinen Luxus. Aber es ist schon sehr eng und ein großer Unterschied zu zu Hause. Auf Spenden angewiesen zu sein, ist uns unangenehm.“ Schwierige Wohnungssuche Fehlende Unterbringungsmöglichkeiten beklagen auch die Kommunen, die schon seit längerer Zeit an Land und Bund appellieren. &bdquo;Die Vorbereitung und Einrichtung von Unterkünften sind aufwendig und kostenintensiv. Eine Kostenübernahmezusage hierfür wäre wichtig. Ebenso sollte das Land weitere eigene Unterbringungsmöglichkeiten schaffen, um für Entlastung zu sorgen“, erklärt Matthias Husemann, Ordnungsamtsleiter bei der Stadt Enger. Sollten in den nächsten Wochen vermehrt neue Geflüchtete in Enger und Spenge ankommen, könne die Unterbringung auch in zusätzlich errichteten Sammelunterkünften wie zum Beispiel einer umfunktionierten Turnhalle erfolgen. Trotzdem käme man an Kapazitätsgrenzen. Annegret Beckmann, Vorsitzende des Vereins &bdquo;Asyl Spenge“, berichtet Ähnliches: &bdquo;Die Ukrainer könnten, anders als viele andere Asylsuchende, auch in privat angemieteten Wohnungen wohnen. Viele würden das auch gerne, aber der Wohnungsmarkt ist leer gefegt.“ Nicht-deutsche Menschen hätten es laut ihr schwer eine Wohnung zu finden: &bdquo;Viele Vermieter wünschen sich ältere Paare ohne Kinder. Ältere, kinderlose Paare flüchten aber in den meisten Fällen nicht.“ Das Gefühl, in Sicherheit zu sein, überwiegt über die großen und kleinen Hürden des Alltags. &bdquo;Wir möchten das Land besser kennenlernen und uns in die Gesellschaft integrieren“, ist immer wieder auf Handydisplays vor dem Kleinbahnhof zu lesen. Auch wenn die meisten dort weiterhin hoffen, schnell in ihre Heimat zurückkehren können, versuchen sie, realistisch zu bleiben: &bdquo;Wir wissen, dass der Krieg so schnell nicht enden wird“, berichtet ein Ukrainer. Diese Ungewissheit belastet auch die Schülerinnen und Schüler in der Internationalen Klasse. Viele der Kinder haben große Pläne: Eine Fußball- und Boxkarriere, ein Medizinstudienplatz, einmal als Model über den Laufsteg gehen. Ob sie je wieder in ihre Heimat zurückkehren können, um an all dem zu arbeiten, ist ungewiss. Sie wünschen sich, dass der Krieg endgültig stoppt. Der elfjährige Daniel sagt: &bdquo;Ich vermisse mein Zuhause. Odessa ist in meinem Herzen – egal wo ich bin.“

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