Gütersloher Konzern Miele in der NS-Zeit: Neues Buch bringt überraschende Erkenntnisse

Gütersloh. Dass Miele in den Jahren vor und während des Zweiten Weltkriegs Rüstungsgüter für die Wehrmacht hergestellt hat und dabei auch Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene einsetzte, ist bekannt. Was aber genau in jenen Jahren bei Miele produziert wurde und in welchem Umfang, war bislang unerforscht. Nun steht fest: Das Narrativ von Miele während der Zeit des Nationalsozialismus bedarf einer deutlichen Korrektur. Bis 1944 erreichte der Umsatzanteil der damals 50 Rüstungsgüter bei Miele überraschende 95 Prozent: Lufttorpedos, Minen, Granaten. 15 Prozent aller Springminen sollen von Miele in Gütersloh gekommen sein. Über die Jahre mutierte Miele fast komplett zum Rüstungsunternehmen. Dieser Umstand ist sowohl für die Öffentlichkeit neu als auch für die Familien Miele und Zinkann selbst. Belege liefert das Buch &bdquo;Miele im Nationalsozialismus“, das im Siedler-Verlag erschienen und seit Freitag im Buchhandel erhältlich ist. Die Gründerfamilien Miele und Zinkann haben im Herbst 2020 die wissenschaftliche Erforschung der Rolle von Miele in der NS-Zeit in Auftrag gegeben. Autorin der historischen Studie ist Andrea Schneider-Braunberger. Sie ist Geschäftsführerin der &bdquo;Gesellschaft für Unternehmensgeschichte GUG“ und gilt als international renommierte Expertin. Miele begab sich in eine sogenannte Pfadabhängigkeit Schneider-Braunberger recherchierte, dass Miele vor Kriegsbeginn 1936 Baracken und Holzschemel für den Gütersloher Militärflughafen lieferte. Miele stellte zu dieser Zeit Milchzentrifugen, Waschmaschinen, Staubsauger, Fahrräder und Motorräder her. Die Rohstoffe aber wurden immer knapper, und so entschieden Carl Miele junior und Kurt Christian Zinkann, sich Rüstungsgütern zuzuwenden, denn &bdquo;ohne die Zuteilung von Rohstoffen und Arbeitskräften für kriegswichtige Güter hätte das Unternehmen keinen Bestand gehabt“, schreibt die Autorin. Schon 1937 baute Miele eine eigene Fertigung von Artilleriezündern im Zweigwerk Bielefeld. &bdquo;Damit begab sich Miele & Cie. auf den Weg in eine Pfadabhängigkeit, die nach einer gewissen Zeit kaum Abzweigungen, geschweige denn eine Umkehr erlaubte.“ Schneider-Braunberger kommt zu dem Schluss, dass Miele mit der Zeit nicht mehr aus dem Rüstungsgeschäft aussteigen konnte, ohne enteignet zu werden. Zwangsarbeiter mussten von den Unternehmen selbst beantragt werden. Als immer mehr Männer an die Front gingen, stieg der Anteil der Frauen in den Werken – auch bei Miele. Um die Vorgaben der Wehrmacht, Munition zu produzieren, erfüllen zu können, beantragte Miele die Zuteilung von zivilen Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen. Zeitenwende bei Miele trat zwischen 1941/1942 ein Insgesamt arbeiteten in den Miele-Werken in Gütersloh und Bielefeld in der Spitze vor Kriegsende 941 Zwangsarbeiter, wie die Historikerin belegt. Anhand der Geburtsorte in den Akten konnte die Autorin zeigen, dass es vor allem Frauen aus der Ukraine waren. Sie waren untergebracht in Baracken, 7 mal 20 Meter groß für etwa 80 Personen. Eine Zeitenwende soll der Studie zufolge 1941/42 bei Miele eingetreten sein. Carl Miele junior und Kurt Christian Zinkann (beide Mitglied der NSDAP, aber ohne Parteiämter) änderten ihr Verhalten. Sie hätten den Nationalsozialismus innerlich abgelehnt, förderten gar dessen Ende aktiv. Schneider-Braunberger meint, man könne beiden Unternehmern &bdquo;ideologische Distanz zum Nationalsozialismus und Berührungspunkte zum Widerstand zuordnen“. Das bestätigten auch die Entnazifizierungsausschüsse, sodass Miele und Zinkann nach Kriegsende uneingeschränkt und schnell wieder in die zivile Produktion einstiegen. &bdquo;Details haben uns überrascht und betroffen gemacht“, heißt es &bdquo;Rückblickend wissen wir, dass wir uns zu lange auf die mündlichen Überlieferungen in den Familien und im Unternehmen verlassen haben“, lautet die Stellungnahme von Markus Miele und Reinhard Zinkann, Gründerurenkel und Geschäftsführende Gesellschafter der Miele-Gruppe. &bdquo;Viele Details in dem Buch haben uns überrascht und sehr betroffen gemacht – vor allem, dass Miele in deutlich größerem Umfang Munition unterschiedlichster Art produziert hat, als wir dies jahrzehntelang geglaubt haben.“ Nicht alle Ereignisse zwischen 1933 und 1945 seien präzise überliefert, vieles sei im Kriegs-Chaos verloren gegangen. Peter Zinkann (geb. 1928) ist als Sohn von Kurt Christian Zinkann der einzige noch lebende Zeitzeuge der Familien. 1944 kam er als Flakhelfer auf den Flughafen Gütersloh. &bdquo;Ich habe zweimal mit ihm gesprochen“, erklärt die Autorin Schneider-Braunberger, &bdquo;aber er war damals sehr jung und die Erinnerung ist bruchstückhaft und zeitlich nicht immer stimmig.“ Unternehmen habe ernsthaftes Interesse an Aufklärung, sagt die Historikerin Es gebe tatsächlich kaum persönliche Memoiren, die Datenlage war zu Beginn der Aufarbeitung überschaubar gering. &bdquo;Wir sind für die Recherche durch alle möglichen Keller und Dachböden bei Miele gekraxelt“, so Schneider-Braunberger. Fünf Fotos habe man auf diese Weise gefunden. Alle anderen belastbaren Daten habe die Autorin zusammengetragen durch Recherche vor allem beim Bundesarchiv Freiburg. Die Historikerin wurde schnell fündig. Die erste Rückmeldung an den Gesellschafterausschuss – der bei Miele &bdquo;Familienrat“ heißt – erfolgte schon 2021. &bdquo;Als klar war, dass an dem Thema mehr dran ist als bislang bekannt, wurde bei Miele sofort entschieden, dass man das Thema publik machen muss“, sagt Schneider-Braunberger. Das Unternehmen habe ein ernsthaftes Interesse an Aufklärung, die Historikerin habe von den betroffenen Familien eine offene und sehr positive Unterstützung erfahren. Seit August liegt die abgeschlossene Arbeit vor. Wille zur Aufklärung scheint bei vielen Unternehmen vorhanden zu sein Miele selbst ist Auftraggeber der Studie. Ein Grund, um das Ergebnis anzuzweifeln? &bdquo;Nein, die Dinge kommen zum Vorschein, es wird nichts schöngeschrieben“, beteuert die Autorin. Dem Gütersloher Konzern bescheinigt sie einen guten Umgang mit der Thematik. &bdquo;Aus meiner Erfahrung gibt es kein Unternehmen, wo es nach einer solchen Untersuchung nicht anders kommt als gedacht.“ Der Wille zur Aufklärung scheint dennoch bei vielen Unternehmen vorhanden: &bdquo;Wir haben so viele Anfragen für eine Erstrecherche wie noch nie.“ Die jüngeren Generationen würden Antworten wollen auf die noch offenen Fragen. &bdquo;Die Welt konfrontiert uns gerade mit vielen Kriegen.“ Deshalb, so die Historikerin, sei der Blick zurück gar nicht schlecht. &bdquo;Man sollte genau hinschauen, mit wem man Geschäfte macht. An den Beispielen der Vergangenheit können wir lernen, wohin das führen kann.“

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