Bielefeld. Vor dem kleinen Ladenlokal des „Strandprojekts“, in dem die Bielefelder Künstlerin Raphaela Kula persönliche Geschichten sammelt, haben sich fast 80 Menschen versammelt – Kinder und Erwachsene, Ältere und Jüngere. Es ist heiß an diesem Sonntag. Ein wenig Schatten spenden „Auf dem langen Kampe“ im Bielefelder Osten nur die Japanischen Zierkirschen, deren rosafarbene Blüten die Straße über die Region hinaus bekannt gemacht haben. An der Ecke steht nur noch ein Baumstumpf, oben liebevoll mit Blumen dekoriert: ein kleiner Abschiedsgruß. Vor wenigen Wochen musste der Umweltbetrieb sieben alte Kirschbäume fällen, weil sie von einem Pilz zersetzt wurden und nicht mehr standsicher waren.
Die Künstlerin mit den auffällig kurzen roten Haaren, die an diesem Nachmittag zu einem Erlebnisspaziergang mit Musik, Tanz und Theater eingeladen hat, fordert ihre Gäste auf, die Gelegenheit zu nutzen und „gerade in Zeiten wie diesen mit offenem Blick und Herzen durch die Nachbarschaft“ zu gehen. „Man muss nicht immer einer Meinung sein, aber einfach mal gucken: Was können wir miteinander machen.“
Um die Ecke wartet Schauspielerin Jelena Quaet Faslem auf einem Stuhl. Sie singt, tanzt und erzählt von ihrem Leben in Jugoslawien, „einem Land, das nicht mehr existiert“: „Ich war nie Kommunist, aber meine Eltern waren es und glauben heute noch an diese Ideale.“ Eine „Hausmeisterin“ (vom Bielefelder Theater UBU, wie die meisten anderen Performer) schickt die bunte Schar auf die andere Straßenseite (ihre „Sicherheitsschuhe zum Verleihen“ finden kaum Abnehmer), wo es durch zwei Pfosten hindurch zu einem weiteren Baumstumpf geht. Darauf thront ein transparenter Behälter mit übrig gebliebenen Häckseln als letzte Würdigung. Raphaela Kula sorgt sich wegen des Klimawandels und der Trockenheit um die geplanten neuen Bäumchen: „Das wird schwierig.“
Klarinettenspielerin auf der Tischtennisplatte
Zu leichter Gitarrenmusik spazieren alle zwischen den Häusern hindurch auf einen großen Innenhof. Rot gepflasterte Wege ziehen sich in sanftem Schwung durch weitläufige Rasenflächen. Eine Frau in schwarzem Kleid und goldener Maske tanzt auf dem Rasen, eine andere in leuchtend Rot sucht (mit Bild) verzweifelt nach ihren zwei Karpfen. Eine ältere Frau hinter einem blumengeschmückten Stand erzählt: „Ich bin jung, erst 97 Jahre – mein Mann ist schon 104!“. Ein „Engel“ mit elfenfarbenem Reifenrock sagt ermutigend: „Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, können schöne Dinge werden.“ Auf einer Tischtennisplatte erwartet eine Klarinettenspielerin die Spaziergänger für ein Kurzkonzert. Von den Balkonen lauschen Bewohner den munteren Klängen.

Ein „Rabe“ mit glänzendem Gefieder mahnt die Spaziergänger zur Eile. „Kommt, kommt, ihr habt unterschrieben, dass ihr schnell seid.“ Einige suchen unter einem Baum Schutz vor der Sonne, während vor ihnen Jelena Quaet Faslem im Stechschritt umher schreitet, vom Kalten Krieg und seinen Auswirkungen auf ihr Land berichtet: „Stabilität ist zerbrechlich.“ Der „Rabe“ drängt zum Aufbruch, zurück zum ehemaligen Ladenlokal, das die Wohnungsbaugenossenschaft Freie Scholle langfristig für das „Strandprojekt“ zur Verfügung gestellt hat. Auf dem Bürgersteig zeigt ein elegant gekleideter Mann allerlei Kunststücke mit einem Rollator.
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Im Gartenhof begibt sich Raphaela Kula mit einigen Kindern auf Entdeckungsreise. Sie finden Ameisen und andere Minikrabbler, einen Marienkäfer und ein Stück Müll. „Das wollen wir hier nicht“, sagt die Künstlerin entschieden zu ihren jungen Zuhörern. „Aber wir freuen uns, dass hier so viele wilde Tiere leben.“
„Pingeljacht“ und Frauenrechte
Auf dem Rasen um sie herum wird es lebendig: Kinder aus dem Viertel laufen mit bunten Schirmen übers Grün, zwei Tänzerinnen bewegen sich anmutig im Hintergrund. Die „Hausmeisterin“ erinnert erneut erfolglos an ihre Sicherheitsschuhe. Raphaela Kula interviewt derweil zwei ältere Anwohnerinnen. Inge und Helga erzählen, was sie als Kinder gespielt haben („Pingeljacht“ und Verstecken) und dass sie sich früh schon für die Rechte von Frauen und „gleichen Lohn für gleiche Arbeit“ eingesetzt haben. „Davon sind wir noch weit entfernt.“
„Ich versuche, jedes Jahr etwas zu machen“, erzählt die Künstlerin, die selbst im Viertel wohnt und abschließend mit ihren Gästen das Brot bricht (türkisches, eritreisches und Vollkornbrot, von den Anwohnern gebacken). Die heutige künstlerische Erkundung (Titel: „beasts//bread//beautifulpeople“), für die sich die Mitglieder des Theaters URU von den gesammelten Geschichten und dazugehörigen Geschenken (Muscheln, Fotos, Kuscheltiere und mehr) im „Strandprojekt“ inspirieren ließen, werde durch das Kulturamt Bielefeld und das NRW-Kultursekretariat in Wuppertal gefördert.
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Auch nächstes Jahr soll es wieder etwas Spannendes geben. Wer nicht so lange warten will: Das „Strandprojekt“, Auf dem Kampe 54, ist donnerstags von 16 bis 18 Uhr geöffnet. Raphaela Kula freut sich auch über weitere persönliche Geschichten über Gehen, Kommen und Bleiben aus dem 5. Kanton.
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