Bielefelder Frauenpreis: Künstlerin Raphaela Kula im großen Porträt

Bielefeld. Natur pur: Waschbären schnüffeln sich durch das Gleisbett, Eichhörnchen huschen über die, mit Blumentöpfen vollgestopfte Terrasse und nachts klopft der Eisenspecht an den Stromversorgungsmasten der Züge. Wer klopft? &bdquo;Wir haben dem Vogel diesen Namen gegeben“, erklärt die Künstlerin Raphaela Kula, &bdquo;der Fritz und ich“. Mit dem zwei Jahre älteren Sozialpädagogen und Gartenbautechniker Fritz Bornemeyer lebt die 58-Jährige im Ostbahnhof direkt an der Bahnsteigkante, dort, wo lautlos die Kurzstreckenbahnen vor ihrem Fenster halten, dort wo die Straße &bdquo;Auf dem Langen Kampe“ beginnt, die sich wie ein Lineal kilometerlang bis zum Festplatz an der Radrennbahn zieht. Dieses Quartier, der &bdquo;5. Kanton“ und seine Bewohner, liegt Raphaela Kula sehr am Herzen. Hier veranstaltet sie seit Beginn der Corona-Pandemie künstlerische Nachbarschaftsprojekte. &bdquo;Ich wollte, dass die Menschen im Viertel, die beengt, teils einsam und eingeschränkt leben, ermutigen, weiterhin Kontakt zu pflegen“, erklärt sie ihr Engagement. Und hier veranstaltete sie mit Unterstützung der Wohnungsbaugenossenschaft &bdquo;Freie Scholle“ Performances in leer stehenden Wohnungen, die teils auf die Abrissbirne warten. Ihre Erkenntnis: &bdquo;Zurück gebliebene Dinge erzählen viel von den ehemaligen Bewohnern“. Nicht nur Möbel, auch Tapeten, Bilder, Gardinen oder Teppiche meint sie damit. &bdquo;Museum für einen Tag“ nannte sie das Projekt, das zeigt, dass Entdeckergeist und Empathie sich die Waage halten im Agieren der Künstlerin Kula. &bdquo;Schön, dass Du da bist“, hieß eines ihrer letzten interaktiven Performance-Projekte mit vergänglichen Schriftzügen aus Sand auf dem Kesselbrink . &bdquo;Mich reizt die positive Neugier bei den Passanten“, erklärt Kula. Ein weiteres Element prägt das Wirken der, in Detmold geborenen und aufgewachsenen Kula: Erinnerungskultur! Bereits vor zwölf Jahren zeigte sie in der Ravensberger Spinnerei eine Ausstellung über Sex-Zwangsarbeit in NS-Konzentrationslagern, ein Thema, wie sie damals sagte, &bdquo;über das jahrzehntelang geschwiegen wurde“. Kulas künstlerischer Beitrag bestand seinerzeit darin, Zitate und Begriffe auf Bodenfliesen und Treppenstufen zu kleben, um eine &bdquo;Konfrontation mit der Verantwortlichkeit gegenüber Gewalt“ anzubieten. Gewalt, ja, die kennt Raphaela Kula auch aus ihrer Kindheit. Ihr Vater sei kein guter Mensch gewesen. &bdquo;Mit meiner Mutter und meiner Schwester ’flüchteten’ wir oft vor ihm und verbrachten viel Zeit auf der Nordseeinsel Texel. Anfang der 1980er Jahre zog sie nach Bielefeld. Auch auf einer anderen Ebene hat Kula Berührungspunkte mit dem holländischen Nachbarn: Mit dem Amsterdamer Jules Schelvis, der im Krieg mit über 30.000 anderen Juden aus den Niederlanden ins Vernichtungslager Sobibor deportiert wurde, pflegte sie einen engen Kontakt bis zu seinem Tod 2016. Die vielen Gespräche mit ihm inspirierten sie zu Raum-Installationen mit Birkenstämmen, zerbrochenen Spiegeln und Stacheldraht – zuletzt im Schauraum am Kesselbrink. Kula besuchte mehrmals die Schreckensstätte in Ostpolen (errichtet in einem Birkenwald) und lernte dort auch die Schicksale von Bielefeldern kennen, die in Sobibor von den Nazis ermordet wurden. Unter ihnen die damals 16-jährige Inge Dreyer aus der Fröbelstraße. Kula richtete vor Ort eine &bdquo;Gedenkallee“ ein, sie pflanzte Bäume auf dem Weg von der Bahnsteigkante der Bahnhofsrampe bis zur Gaskammer. &bdquo;Das ist Erinnerungsarbeit und keine Kunst“, sagt Kula heute. Bereits mit 13 Jahren besuchte sie die Gedenkstätte Stalag 326 in Schloß Holte-Stuckenbrock – ein nachhaltiger Besuch. Nahe der ehemaligen Gaststätte Stolander webte sich Raphaela Kula 2011 mit Jute-, Hanf und Sisalbänder in einen Baum ein, bis sie nicht mehr zu sehen war. &bdquo;Disappearing/vom verschwinden“ nannte sie die Aktion. Auch diese Performance war von ihrer Neugier durchzogen, von den Erfahrungen, die sie mit Passanten machen konnte, von Gesprächen, von Interaktion. Zuerst verschwand sie in dem Kokon und später verwitterten die &bdquo;Verpackungsmaterialien“. Ihr &bdquo;Disappearing“ war sogar Bestandteil einer Inszenierung in der Kölner Oper. Partizipative künstlerische Aktionen ziehen sich durch Raphaela Kulas Leben wie ein roter Faden. Ihr &bdquo;Strandprojekt“ (Geschichten vom kommen, gehen, bleiben) unter anderem an der Wilhelmstraße gehört ebenso dazu wie ihre Plakataktion &bdquo;Oh Corona/ nice to meet you“. Bereits 2006 veranstaltete Kula die Aktion &bdquo;Kunst fördert Kinder“, eine Initiative des Bielefelder Round Table 17, das wiederholte sie mehrmals. In ihrem Atelier gleich neben dem Bahnsteig des Ostbahnhofs (&bdquo;Aus dem Küchenfenster wurden früher die Fahrscheine ausgegeben“) widmet sich Raphaela Kula der Bildenden Kunst. Aquarelle, Zeichnungen, abstrakte Malerei und Fotografie sind neben den interaktiven Performances ihre Schwerpunkte. Nach einer lebensgefährlichen Hirnblutung bekam ihr Leben eine neue Wertung (&bdquo;Denken ist ein riesiges Geschenk“) und einen anderen Rhythmus. Ob sie will oder nicht, Kula muss täglich zwölf Stunden schlafen. So ist ihr Tag sehr komprimiert. &bdquo;Aber am Ende eines Tages möchte ich mit einem Lächeln ins Bett“, sagt sie.

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