OWL Crime – mit Podcast

97-jährige Bielefelderin mit Holzhocker fast getötet: Warum es zum Angriff kam 

Er hatte den ganzen Tag getrunken. Als es am Abend zu einem Streit mit einer Nachbarin kam, verlor der 73-Jährige alle Zurückhaltung. Im aktuellen Podcast wird die Geschichte dazu erzählt.

Die Bielefelder Polizei fand den Täter schlafend neben seinem Opfer. Als die Mordkommission am Tatort ihre Arbeit aufnahm, war der Verdächtige also bereits bekannt. | © Barbara Franke

02.05.2024 | 02.05.2024, 16:58

Bielefeld. Die Brutalität, mit der der 73-jährige Boris S. (alle Namen geändert) auf sein Opfer einschlug, war enorm. Der Rentner hatte seine 97-jährige Nachbarin Anneliese W. nach einem Streit zunächst mit der Faust zu Boden geschlagen und war anschließend komplett ausgerastet.

Die Ermittlungen der Mordkommission und der Rechtsmedizin machten später klar, dass er an jenem 10. Juni 2023 in einem Mehrfamilienhaus Am Pfarracker nicht nur mehrfach auf die betagte Witwe eintrat, sondern auch noch mit einem Holzhocker auf den Kopf seiner Nachbarin einschlug, bis dieser zerbrach. Anschließend hatte er sein Opfer auch noch bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt. In der neuesten Folge von Ostwestfälle, dem True-Crime-Podcast der Neuen Westfälischen, sprechen Birgitt Gottwald und Jens Reichenbach über den Fall.

Holzhocker Attacke – alle Fakten im Überblick

  • Am 10. Juni 2023 gegen 22 Uhr wurde Anneliese W. (97) von ihrem Nachbarn Boris S. (73) fast getötet.
  • Zunächst hat der Täter das Opfer mit der Faust zu Boden geschlagen, dann mit einem Holzhocker auf den Kopf des 97-Jährigen eingeschlagen und bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt.
  • Unmittelbar nach der Tat legte sich Boris S. auf den Boden und schlief neben seinem Opfer ein.
  • Während des Tathergangs stand der 73-Jährige unter Einfluss von Alkohol.
  • Anneliese W. kam mit einem Schädelbruch und schweren Körperverletzungen ins Krankenhaus.
  • Boris S. wurde wegen versuchten Totschlags zu fünf Jahren Haft verurteilt.

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Bielefelder Seniorin überlebt mit großem Glück

Keiner der Rettungskräfte am Tatort glaubte damals, dass Anneliese W. überleben würde. Doch die 97-Jährige kämpfte sich zurück ins Leben. Opferanwalt Peter Rostek sagte später zu: „Es grenzt an ein Wunder, dass sie diese massive Gewalteinwirkung körperlich so gut überstanden hat.“ Nur vier Tage nach der Tat konnte die Bielefelderin, die nach einem Schädelbruch und schweren Gesichtsverletzungen sofort operiert werden musste, sogar schon die Intensivstation verlassen.

In der aktuellen Folge von „Ostwestfälle“, dem True-Crime-Podcast der Neuen Westfälischen, sprechen Birgitt Gottwald und NW-Redakteur Jens Reichenbach über diesen Fall, der allein wegen des hohen Alters von Opfer und Täter äußerst ungewöhnlich ist. Dabei sprechen sie nicht nur über den Gewaltexzess, sondern auch über die Trunkenheit des Täters und welche Bedeutung diese bei der juristischen Einschätzung hatte.

Lärm, Pöbelei und Alkohol und plötzlich schlug der Bielefelder zu

Boris S. war an jenem Abend schwer betrunken. Er soll bereits den ganzen Tag über Rotwein getrunken haben, als er gegen 22 Uhr in seine Wohnung zurückkehren wollte, aber den Wohnungsschlüssel nicht mehr fand. Kurzerhand setzte sich der alkoholkranke Bielefelder in den Hausflur und trank dort weiter. Auch soll er dort herumkrakeelt und Dinge umgeworfen haben. Die Experten der Mordkommission rekonstruierten bei S. später einen Blutalkohol von 2,69 Promille.

Sein Trinkgelage führte schließlich dazu, dass zwischen dem Betrunkenen und der 97-jährigen Nachbarin an ihrer Wohnungstür ein Streit entbrannte. Ihre Unmutsäußerungen über sein Verhalten müssen ihn so erbost haben, dass der bisher nicht vorbestrafte Mann plötzlich zum Angriff überging. Mit großer Wut muss er immer wieder auf sein am Boden liegendes Opfer eingeschlagen haben. Eine Nachbarin hörte die Hilfeschreie der 97-Jährigen und kam ihr glücklicherweise zu Hilfe, indem sie den Betrunkenen von seinem Opfer wegriss.

Erhebliche Bewusstseinsstörung oder gewohnter Alkoholspiegel

Während sie sich um die lebensgefährlich verletzte Dame kümmerte und Notarzt und Rettungsdienst verständigte, legte sich der 73-Jährige direkt am Tatort zu Boden und schlief ein. Für die kurz darauf eintreffenden Polizeibeamten war die Suche nach dem Täter damit denkbar schnell beendet. Es zeigt aber auch, wie betrunken Boris S. zur Tatzeit war.

Die Ermittler der Mordkommission Pfarr und der ermittelnde Staatsanwaltschaft Veit Walter glauben, dass S. davon ausging, sein Opfer getötet zu haben. Walter klagte ihn deshalb wegen versuchten Totschlags an. Vor dem Landgericht war dann die entscheidende Frage, war der Angeklagte trotz seiner Trunkenheit noch steuerungsfähig und damit für sein Tun verantwortlich.

Während sein Verteidiger Jan Gruner von einer erheblichen Bewusstseinsstörung sprach, gab ein Sachverständiger zu Protokoll, dass der Angeklagte so große Mengen Alkohol gewohnt war. Ihm zufolge war Boris S., der seit 16 Jahren Witwer ist und seitdem immer mehr dem Alkohol zugesprochen hatte, also nicht in relevanter Weise eingeschränkt.

Bielefelder gilt nur im betrunkenen Zustand als gefährlich

Der 73-Jährige (r.) schwieg meist vor Gericht. Hier verständigt er sich mit seinem Verteidiger Jan Gruner. - © Jürgen Mahncke
Der 73-Jährige (r.) schwieg meist vor Gericht. Hier verständigt er sich mit seinem Verteidiger Jan Gruner. | © Jürgen Mahncke

Entsprechend verurteilte dann das Schwurgericht den 73-Jährigen im Dezember 2023 wegen versuchten Totschlags zu fünf Jahren Haft. Zivilrechtlich wird dem Opfer 25.000 Euro Schmerzensgeld zugesprochen. Ob der Verurteilte diese Summe jemals bezahlen kann, darf bezweifelt werden. Wichtige Auflage des Urteils: Der 73-Jährige muss sich nach dem Absitzen des sogenannten Vorwegvollzugs (16 Monate Haft) anschließend in eine Entzugsklinik einweisen lassen. Die dann etwa zwei Jahre dauernde Alkoholtherapie dient zum Schutz der Allgemeinheit.

Denn die Verfahrensbeteiligten gehen davon aus, dass Boris S. nur im alkoholisierten Zustand gefährlich ist. Boris S. hatte während des Prozesses geschwiegen. Am Ende des Prozesses gab er aber noch zu Protokoll, dass er „geschockt über die Tat“ gewesen sei. Sein Opfer – die 97-jährige Anneliese W. überstand die Attacke körperlich erstaunlich gut. Doch seelisch hatte die Tat große Folgen. Die Damen zog nach vielen Jahren in dem Mehrfamilienhaus Am Pfarracker aus und wechselte schließlich in eine Pflegeeinrichtung. Eine Rückkehr in die Wohnung, in der sie die schlimmsten Momente ihres Lebens erlebt hatte, war nicht mehr denkbar.

Lesen Sie alle Berichte zum Holzhocker-Fall:

Alles zu den Ermittlungen der Mordkommission Pfarr