Ausgelassen in den Herbst des Lebens

Bielefeld. Schritt für Schritt nähert sich der Pulk in bunte Herbstfarben gekleideter Frauen und Männer einer einzelnen Tänzerin auf der Bühne des Tor 6 Theaterhauses. Der Gassenhauer &bdquo;Schützenliesel“ dröhnt aus dem Lautsprecher – just als die Zeile, &bdquo;dreimal hat’s gekracht“ ertönt, fällt sie von imaginären Schüssen getroffen zu Boden. Die Gruppe sammelt sich, setzt Fuß vor Fuß, synchron, in Formation und im Rhythmus der Musik. &bdquo;Du müsstest noch ein bisschen mehr zu dieser Seite hin fallen“, gibt Dirk Kazmierczak Regieanweisung. Und lässt die Szene wiederholen. Es ist Dienstag und es sind nur noch wenige Tage bis zur Premiere am 13. Mai, einige lange geprobte Szenen müssen &bdquo;geputzt“ werden, wie es in der Theatersprache heißt. Sie bekommen ihren letzten Schliff. Immerhin hat das ausnahmslos aus älteren Menschen, zwischen 60 und 82 Jahren, bestehende Ensemble einen guten Ruf zu verteidigen. Seit 15 Jahren gibt es die Gruppe Tanzbegeisterter TANZsen. So lange leitet Kazmierczak sie als ihr Choreograf. Bei ihrer Entstehung 2008 war er noch Profitänzer im Ensemble von Gregor Zöllig am Theater Bielefeld, stand vor großem Publikum und nicht selten in tragender Rolle auf der Bühne. &bdquo;Für unser Laientanzprojekt ,Zeitsprung’ wurden tanzaffine ältere Menschen gesucht“, erinnert er sich. "Das sind Schattenthemen, gesellschaftlich unerwünscht" Der heute 53-Jährige übernahm die Leitung der Zeitsprung-Gruppe, erarbeitete mit ihr prägnante Szenen, die gut beim Publikum ankamen. Es sei wohl diese Mischung aus Ruhe und Erfahrung, die den älter werdenden Körpern eingeschrieben sei, die so tief im Inneren berühre, erklärt der Tänzer und Choreograf. So blieb die Gruppe zusammen, meisterte die Coronazeit, wo sie mithilfe von virtuellem Speeddating Kontakt hielt. Natürlich habe die Besetzung hier und da gewechselt, einige Teilnehmer seien aber von Anfang an dabei. Kazmierczak ist beeindruckt von der Körpersprache, den tänzerischen Ausdrucksmöglichkeiten der älteren Menschen. Und so sind die Themen der Stücke oft selbstreflexiv. In &bdquo;Wildwechsel“ will die Gruppe zeigen, &bdquo;dass auch ältere Menschen Phasen der Wildheit und Ausgelassenheit in sich tragen, dass Aggression und Sexualität ausgelebt werden wollen. Auch Fragen nach dem (vermeintlichen) Verlust von Schönheit und Attraktivität, das &bdquo;Unsichtbar werden“ alternder Menschen werden mitverhandelt. &bdquo;Das sind Schattenthemen, gesellschaftlich nicht so erwünscht“, so der Leiter des Ensembles. Das Stück spielt in der imaginären Welt eines Waldes, in denen Geschöpfe ihre Kreise ziehen, assoziativ ausgestattet mit Kostümen mit (falschem) Fellbesatz, hergestellt vom Kölner Kostümbildner André Buch. In der Probe beeindruckt der Kontrast zwischen ruhigen, geführten, exakt abgestimmten Ensembleszenen und den &bdquo;Ausbrüchen“ Einzelner. &bdquo;Ich glaube, dass gerade dort, wo Dissonanzen entstehen das Denken anfängt, Reibung stattfindet“, erklärt der Choreograf, der nach Ende seiner Theater-Laufbahn 2015 eine Ausbildung zum Heilpraktiker für Psychotherapie anschloss und heute als tiefenpsychologischer Tanztherapeut in eigener Praxis arbeitet. Diese körperzentrierte Therapie-Arbeit leistet er zudem für eine Bielefelder Klinik. Es ist die fünfte Bühnenproduktion mit der Gruppe TANZsen bleibt ein wichtiges Standbein seiner Arbeit: &bdquo;Das ist eine tolle, mutige Truppe“, so Kazmierczak nicht ohne Stolz, &bdquo;alle zeigen viel von sich selbst“. Inzwischen bringt er mit der Compagnie das fünfte Stück auf die Bühne. Collagenhafte Szenen, Bilder, Stimmungen erwarten das Publikum bei &bdquo;Wildwechsel“, außerdem musikalische Begleitung durch den Konzertgitarristen Andreas Koch an der 13-saitigen Altgitarre. Kazmierczak erinnert sich gerne an seine Bühnenkarriere, trauert ihr aber nicht nach. Die Choreografenarbeit und zusätzlich die Tanztherapie empfindet er für sich als &bdquo;stimmige Erweiterung“. Samstag, 13. Mai, 20 Uhr, Tor 6 Theaterhaus, Vorverkauf: Buchtipp, Meindersstr., Reservierung: TANZsen.bielefeld@t-online.de und Abendkasse.

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