Bielefeld. Seit einer Woche ist NRW im Corona-Modus. Viele Menschen sind in einem emotionalen Ausnahmezustand, sind verunsichert, manche reagieren zunehmend aggressiv. Leidtragende sind, davor warnen jetzt schon die Hilfsvereine, vor allem die Frauen und Kinder in den Familien. Bereits am Sonntag gab es nur noch in einem einzigen Frauenhaus in NRW freie Plätze – in Aachen. Alle anderen Schutzmöglichkeiten sind bereits ausgereizt – auch in Bielefeld.

Sylvia Krenzel, Diplom-Psychologin des Mädchenhauses Bielefeld, rechnet angesichts der starken Einschränkungen im öffentlichen Leben auch hier mit einem starken „Anstieg häuslicher oder sexualisierter Gewalt". Sie betont: „Das eigene Zuhause ist oft kein sicherer Ort." Laut einer Frauenrechtsorganisation aus Peking war die Zahl der Hilferufe nach Fällen häuslicher Gewalt während der verordneten Quarantäne dreimal so hoch wie zuvor.
"Je länger der Krisenzustand besteht, desto größer werden die Probleme"
Im Kreis Gütersloh soll es bereits einen spürbaren Anstieg der Schutzgesuche geben. Auch Beatrice Tappmeier vom autonomen Frauenhaus Bielefeld befürchtet mehr Taten. Allerdings sei bei ihr die Zahl der Hilferufe (zwei Frauen baten an diesem Wochenende um Schutz) noch im üblichen Rahmen gewesen. Da ihr Frauenhaus bereits voll besetzt ist, wurde die Vermittlung schwierig. „Und je länger der Corona-Krisenzustand bestehen bleibt, desto größer werden die Probleme in vielen Familien", prognostiziert Tappmeier.
Auch die Wissenschaft rechnet mit einer solchen Entwicklung: Der Bielefelder Konfliktforscher Andreas Zick sieht im Zuge der Coronakrise ein erhöhtes Risiko von Gewalttaten. "Wir rechnen mit Gewalt, die sich vor allem gegen vermeintlich Schwächere richtet. Wir müssen sie ernst nehmen, und sie kann zunehmen, wenn die Krise sich verschärft und die Stresssituation durch die eingeschränkten Freiheiten das Erregungs- und Aggressionsniveau bei jenen steigert, die eh schon aggressiv gestimmt sind."
Die Frau arbeitet, während der Vater zu Hause sitzt
Beatrice Tappmeier erklärt auch warum: „Deutlich mehr Frauen arbeiten in aktuell systemrelevanten Berufen etwa im Krankenhaus, in der Pflege oder in Supermärkten. Sie gehen weiterhin arbeiten. Dagegen müssen viele Männer plötzlich zu Hause bleiben." Das stelle die Rollenbilder vieler Männer auf den Kopf, sorge für Verunsicherung und Aggressionen.
Auch die Kinder dürften dann vielfach von Gewalt betroffen sein, glaubt die Leiterin des Frauenhauses. „Nicht jeder hat die Möglichkeit, seine Kinder in den Garten zu schicken. Was machen die Familien mit Kindern in der 3-Zimmer-Wohnung im Obergeschoss?" Durch die Enge werde es zunehmend Konflikte geben.
Wegfallen sozialer Kontrolle kann zur Hölle werden
Das habe auch mit dem Wegfallen sozialer Kontrollen zu tun, sagt Sylvia Krenzel vom Mädchenhaus: „Die Verletzungen der Mädchen und Frauen fallen weniger auf, wenn sie nicht mehr zur Schule gehen oder zur Arbeit oder in den Sportverein." Im Gegenteil: "Die Betroffenen sind den Tätern in der aktuellen Situation nun ständig ausgeliefert."
„Wir machen uns große Sorgen um die Mädchen und jungen Frauen, denen kaum persönliche Freiräume zugestanden werden." Für sie bedeute der Schulbesuch normalerweise nicht nur Lernen, sondern auch Freiheit, Sicherheit und Schutz.
Forderung nach Hotelzimmern für betroffene Frauen
Deshalb fordert der Dachverband der autonomen Frauenhäuser schon jetzt unkonventionelle und schnelle Lösungen von der Politik und den Kommunen. Dazu könnte die Finanzierung von Hotelzimmern zählen. Tappmeiers Überlegungen, die Kapazität ihrer Einrichtung durch Doppelbelegungen zu vergrößern, dürfte in Zeiten einer ernsten Virus-Bedrohung zu viel Risiko bedeuten.
„Bisher musste keines der Frauenhäuser im Land wegen Corona geschlossen werden", sagt Tappmeier. Doch das kann kommen. Sie hofft nun darauf, dass die Stadt für den Notfall Flüchtlings- oder Obdachlosenunterkünfte zur Verfügung stellen kann, die nicht mehr genutzt werden. Doch gibt es überhaupt noch freie Kapazitäten? Die Container der Flüchtlingsunterkünfte werden inzwischen anderweitig eingesetzt.
Suche nach pädagogisch ausgebildeten Helferinnen
Tappmeier: „Wir suchen jetzt dringend alternative Lösungen." Ihr zu Folge ist es nur eine Frage der Zeit: "Je länger die Schulschließungen und Arbeitsverbote andauern, desto größer werden die Probleme werden."
Auch das Mädchenhaus benötigt dringend Hilfe: „Unsere Mädchen haben kein Zuhause, in das sie zurückkehren können", heißt es auf der Homepage des Mädchenhauses. Deshalb sei der Verein auf der Suche nach pädagogisch ausgebildeten und nicht ausgebildeten Frauen, die im Ernstfall bereit sind, die stationären Angebote des Mädchenhauses aufrecht zu erhalten.
Sylvia Krenzel appelliert aber auch an alle anderen: „Gerade jetzt ist es wichtig, dass wir unsere Mitmenschen in einen wohlwollenden und schützenden Blick nehmen. Gerade die, die sonst schnell aus dem Blick geraten – das sind eben auch von Gewalt betroffene Kinder, Jugendliche und Frauen."
Kontakt zu den Bielefelder Schutzhäusern:
AWO-Frauenhaus Bielefeld, Tel. (0521) 521 36 36
Autonomes Frauenhaus Bielefeld, Tel\. \(0521\) 17 73 76
Mädchenhaus Bielefeld, Tel. (0521) 17 30 16