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Corona? Dieser Bielefelder fordert von der Gesellschaft einen echten Neustart

Kurts Gespräch: Herbert Linnemann (53), Leiter des Tierparks Olderdissen, beobachtet in der aktuellen Krise viele Widersprüche - und er sieht auch das große Ganze. Eine Epidemie gehöre dazu zum Leben, der Mensch gefährde sich selbst.

Herbert Linnemann leitet den Tierpark und sieht Corona aus einem besonderen Blickwinkel. | © Kurt Ehmke

23.03.2020 | 23.03.2020, 22:22

Es ist Krisenzeit. Wie gehen Menschen damit um? Was passiert, wenn es vorbei ist? Was bedeutet das für das Zusammenleben? Darüber spricht NW-Redakteur Kurt Ehmke in den kommenden Tagen mit Bielefeldern. Heute in "Kurts Gespräch": Tierparkleiter Herbert Linnemann.

Bielefeld. Die Menschheit und ihr Verhalten auf dieser Erde beobachtet Tierparkleiter Herbert Linnemann kritisch. Zu viele Menschen auf zu engem Raum, und eine Einstellung, die er als „immer mehr, immer mehr" beschreibt. Wäre der Mensch ein Tier, wäre die Population längst in einer tiefen Krise und am Zusammenbrechen.

Er fordert von der Gesellschaft, nach der Corona-Zeit mit deutlich anderem Verhalten unterwegs zu sein. - © Kurt Ehmke
Er fordert von der Gesellschaft, nach der Corona-Zeit mit deutlich anderem Verhalten unterwegs zu sein. | © Kurt Ehmke

Wer genau hinsehe, der erkenne, dass der Mensch sich auch in dieser Spirale bewege – über den Klimawandel. Er bedrohe nicht die Erde, sondern die Population des Menschen. Das werde oft verwechselt. Corona sei eine weitere Bedrohung für uns Menschen. Linnemann mag keine Bezüge zum Tierreich herstellen, weiß aber auch, dass beispielsweise Füchse lange von der Tollwut – und ihr Hauptnahrungsmittel, die Mäuse, von Krankheiten, Kälte und Stress immer wieder so dezimiert werden, dass stabile Populationen die Folge sind. Das massenhafte Sterben gehört zum Leben dazu.

"Leben ist nun einmal endlich"

Auf den Mensch sei das schwer zu übertragen. Und doch gibt es Parallelen. Nur tun die besonders weh, weil das denkende Wesen Mensch sich mit all seiner Empathie und seinen Gefühlen in einer anderen Rolle sieht. Linnemann hat in dieser Rolle naturgemäß Sorge und Angst um seine Eltern – 80 und 84 Jahre alt. Und ihm stockt kurz das Herz, als ihm seine Eltern (und das erleben etliche erwachsene Kinder zurzeit) sagen, dass das Leben nun einmal endlich sei, und dass eine Epidemie wie Corona auch dazu gehören könne zur Natur - und eben nun die Älteren diejenigen seien, die am stärksten betroffen seien.

Wie etliche Ältere sind auch seine Eltern nicht willens, sich komplett zu isolieren. Motto: Wenn der Tod denn kommt, kommt er eben – so ist das Leben. So denken einige Ältere, ihnen gegenüber stehen auch viele, die beinahe panisch sind. Linnemann: „Wer sein Lebensende in Sicht hat, kann oft besser damit umgehen, dass alles endlich ist, dass das Loslassen dazu gehört." Und die Kinder sind davon berührt, reagieren fassungslos, wollen das nicht, sehen das Leben und nicht den Tod.

Frage des Standpunktes

Alles eine Frage des Standpunktes im Leben – am Anfang, in der Mitte oder eben gegen Ende. Und so schaut auch er mehr als irritiert auf viele Ältere, die bis zuletzt noch immer gemeinsam unterwegs waren, sich trafen, in Gartencentern einkauften, die Wertstoffhöfe fluteten, sich nicht voll einschränken lassen wollten.

Blickt er auf seine Eltern, hat er Angst, sieht für alle, die in seiner Rolle als Kind sind, schreckliche Szenarien am Horizont. „Es kann sehr bitter laufen: Wenn die Eltern Corona bekommen und ins Krankenhaus müssen, können wir sie nicht beschützen, vielleicht sehen wir sie sogar nicht wieder, denn es sterben Menschen in der Quarantäne oder am Beatmungsgerät – und dann folgt vielleicht noch eine anonyme Beerdigung oder wir bekommen eine Urne."

Für ihn ein Schreckensszenario, das aber so weit entfernt nicht unbedingt sei. Eines, das ihn mehr schmerze als seine Eltern. „Sie erleben sich in ihrem Körper teilweise ganz realistisch als alte Menschen, wir sie aber als noch recht fitte Mütter und Väter". Die andere Perspektive auf denselben Menschen könne zu anderen Beurteilungen führen.

"Zu viele, dicht gedrängt"

Fakt sei: Nähe verändere den Blickwinkel, die Emotionen. Aus großer Distanz heraus betrachtet sei es durchaus normal, dass der Mensch als Gattung auch einmal durch eine Epidemie Verluste erleide. „Wer nüchtern auf uns schaut, der sieht, dass wir zu viele sind, zu dicht gedrängt leben, zu wenig Grün um uns haben".

Als Tierparkleiter beobachtet er: „Wir schreiben für unsere Tiere Platz vor, den sie bekommen müssen, aber in China und auch im Westen lebt der urbane Mensch sehr sehr eng beieinander, was ihn stresst und nicht gut für ihn ist." Linnemann: „Damit sind wir anfälliger für Krankheiten." Und nun stehe die Gesellschaft vor einem echten Spagat: „Wir alle streben doch danach, rauszugehen, uns zu bewegen, uns auszutauschen, weil es uns eben gut tut – und jetzt müssen wir zu Hause bleiben wegen Corona."

Es sei eine merkwürdige Situation, die sich gerade entwickle. Einerseits Egoismen, bei Jugendlichen wie bei Älteren, andererseits „entstehen gerade wieder tolle soziale Eigenschaften neu, die fast schon verschüttet waren", sagt der 53-Jährige. Er, der seit 2012 den Tierpark Olderdissen leitet, glaubt, „dass der Umbruch der Denkweisen uns allen sehr gut tun kann, es ist gut, dass die Gesellschaft neu starten muss und viele sich fragen, was wirklich wichtig ist". Das sei wichtig.

"Wir sind wie Kopfläuse"

Jeder müsse sich klarmachen, „dass Corona für den Einzelnen schlimm ist, nicht aber für die Erde als solche". Linnemann: „Für die Erde sind wir Menschen wie Kopfläuse, auch wenn uns das nicht gefällt." Die Erde drehe sich noch lange weiter. So oder so.