
Rudolf Scharping würde dieses Spiel lieben! Der ehemalige SPD-Chef und Bundesverteidigungsminister galt zur Zeit seiner politischen Karriere als extrem laaangsaaam sprechend. Er selbst hat dazu mal gesagt: "Den Vorwurf, ich redete zu langsam, halte ich für einen vertretbaren Vorwurf, solange er nicht mit dem Vorwurf verbunden ist, ich dächte zu langsam." Doch worüber reden wir hier eigentlich?
"Twin Mirror" ist der erste selbst gepublishte Titel von Dontnod, den preisgekrönten Machern des grandiosen episodischen Abenteuerspiels "Life is Strange" und dem gänzlich unlangsamen "Remember Me". In dem psychologischen Thriller "Twin Mirror" kehrt der ehemalige Investigativ-Journalist Sam in seine Heimat in West Virginia zurück und muss sich seiner Vergangenheit stellen, Geheimnisse aufdecken und versuchen, zu sich selbst zu finden. Sam spricht mit einem imaginären Double, das nur er sehen und hören kann und das wie Engelchen und Teufelchen Ratschläge gibt. Außerdem nutzt Sam einen sogenannten Gedankenpalast, der es ihm ermöglicht, eine Art Familienaufstellung für vergangene Erlebnisse oder Ereignisse zu Rate zu ziehen.

Worum geht's genau?
Sam Higgs ist Journalist und kehrt nach zwei Jahren zurück in seine Heimatstadt. Sein bester Freund Nick, ebenfalls Journalist, ist bei einem mysteriösen Autounfall ums Leben gekommen, und Sam will ihm nun die letzte Ehre erweisen. Aber so richtig wohl ist ihm bei dem Gedanken nicht, wieder nach Basswood (West Virginia) zu kommen. Denn Sam hat dort nicht nur eine unglückliche Liebe erlebt, sondern manche Einwohner sind nicht besonders gut auf ihn zu sprechen, nachdem er damals einen Enthüllungsbericht über das Bergwerk der Stadt geschrieben hat. Das tragen ihm die ehemaligen Bergleute noch immer nach, denn die Mine musste geschlossen werden und die Bergleute verloren ihre Jobs.
Die Beerdigung verpasst Sam, beim Leichenschmaus trinkt er zu viel und schlägt nicht nur über die Strenge, sondern einem Journalistenkollegen auch noch ordentlich eins auf die Mütze. Nicht der beste Einstand, um sich nach zwei Jahren wieder in der Heimat sehen zu lassen. Aber der mysteriöse Unfall seines Freundes lässt ihm keine Ruhe - war es wirklich einer? Oder hat da jemand nachgeholfen? Und wem kann er vertrauen? Sam fragt nach. Und bringt nicht zuletzt damit einen Stein ins Rollen, von dem Bergarbeiter nur träumen können.
Was hat uns gefallen?
Uns gefällt vor allem erstmal, dass sich die Macher dafür entschieden haben, "Twin Mirror" nicht in einzelne Episoden zu unterteilen - angeblich war das - wie bei "Life is Strange" - zunächst so geplant. So lässt sich das gut neunstündige Abenteuer in einem Rutsch erleben. Außerdem können wir endlich mal eine erwachsene Figur steuern - und nicht immer nur Kinder oder Jugendliche wie in "Life is Strange" oder dem erst vor wenigen Monaten erschienenen "Tell me why".

Die Idee des fiktiven Gedankenpalasts, in den sich Sam zurückziehen kann, finden wir grandios. Hier erleben wir Vergangenes neu, setzen Puzzleteile zusammen und loten mögliche Ereignisketten aus. Besonders das Abwägen, wie eine bestimmte Situation entstanden sein könnte, lässt das Detektiv-Herz höher schlagen. Ähnliche Freuden hatten wir damals bei "Detroit: Become Human", wo wir ebenfalls ermittelt mussten, wie sich bestimmte Ereignisse zugetragen haben. Bei "Twin Mirror" lässt uns das Spiel allerdings so lange ermitteln, bis wir die richtige Lösung finden. Falsche Schlüsse gibt es hier nicht.

Und Sam, den wir aus der Third-Person-Perspektive steuern, ist nicht völlig allein, denn er hat ja noch seinen unsichtbaren Ratgeber, der offenbar einiges an emotionaler Intelligenz mitbringt, die wir wiederum bei Sam ziemlich vermissen. In mehreren Situationen waren wir ganz froh, dass wir noch auf die innere Stimme zählen konnten, die das Handeln von anderen Personen einfach meist ganz gut einschätzen konnte.
Ob wir uns an den (oft: moralischen) Rat halten oder nicht, ist uns überlassen. Wir haben uns auch manchmal dagegen entschieden, weil etwas mehr Rationalität dann wieder hilft, aber das Abwägen gehört zum Spiel sehr deutlich dazu. Immerhin: wir sind in den meisten Fällen nicht unter Zeitdruck, müssen uns also nicht innerhalb von ein paar Sekunden entscheiden, sondern können das gaaanz laaangsaaam angehen.
Die Atmosphäre ist übrigens fast immer gedrückt. Dunkel, angespannt, grau. Auch wenn in "Life is Strange" oder "Tell me why" ernste Themen wie Vergewaltigung, Selbstmord oder Drogenprobleme angesprochen wurden, war die Welt eine positiv angehauchte. Bei "Twin Mirror" wird von Anfang an sehr deutlich, dass dies hier eine andere Welt ist. Dass wir einen düsteren Thriller erleben. Dessen Geschichte - auch das müssen wir hier mal deutlich sagen - echt gut ist. Wir haben uns davon sehr gut unterhalten gefühlt, denn was Dontnod extremst gut drauf haben, ist: die Welt der Kleinstädter darzustellen, ihre Sorgen und Ängste, aber auch die Umgebung einzufangen, in die diese Städte eingebettet sind. Das Setting und ihre Charaktere für "Twin Mirror" sind so überzeugend stark wie bei allen Vorgängern aus der Dontnod-Schmiede.
Was hat uns nicht gefallen?

Die Level sind ziemlich schlauchig gebaut. Wehe, wir verlassen den Pfad, der uns vorgegeben ist und ermitteln und recherchieren in einer anderen Reihenfolge - wir werden nichts finden. Erst, wenn das Spiel will, dass wir an diese und jene Orte gehen und bestimmte Schränke öffnen, können wir das auch tun. Das schränkt die Lust erheblich ein, Rätsel auf eigene Faust zu lösen. Je weiter man im Spiel voranschreitet, desto mehr hört man auf die kleinen Hinweise und hakt dann gefühlt nur noch die Landmarken ab, die das Spiel vorgibt. Hier lassen die Macher viel Potential liegen.
Ein spoilerfreies Beispiel: Wir suchen in einer fremden Küche ein Getränk. Wir wissen, dass die Person ihre Getränke in den Schränken aufbewahrt. Bloß: wir können sie erst öffnen, nachdem wir vorher brav alle Zwischenschritte abgehakt haben. Nachdem wir also erst an den Schränken gescheitert sind, dann erfolglos den Kühlschrank ausprobiert haben (wo das Spiel uns darüber informiert, dass es bitteschön kein Kaltgetränk sein soll), entdecken wir eine Abstellkammer. Niemand, der seine Getränke immer in den Schränken aufbewahrt, hat seine Getränke jetzt plötzlich in der Abstellkammer. Wir gucken trotzdem rein. Das Spiel sagt: alles richtig gemacht, reingucken ist super, reingehen ist aber nicht erlaubt. Stattdessen - können wir jetzt die Schränke in der Küche öffnen. Solche Wenn-dann-Mechanismen gehören natürlich zu einem Abenteuer-Spiel, aber in "Twin Mirror" wird damit leider etwas übertrieben.
Und dann diese Langsamkeit. Es gibt ja einen Unterschied zwischen der Entschleunigung, die wir uns im stressigen Alltag oft wünschen, und der Zwangsentschleunigung, der wir nicht entkommen können, so sehr wir wollen. Ein Beispiel: Corona. Ein weiteres: "Twin Mirror".
Wie bei den meisten Spielen gibt es auch hier eine Taste, um schneller zu gehen, aber selbst das fühlt sich an wie eine Wattwanderung mit Gummistiefeln. Wenn wir neue Szenen betreten, ist die Kamerafahrt stets laaangsaaam. Sam bückt sich. Aber wie? Laaangsaaam. Sam greift nach einem Foto. Er dreht es um. Er guckt sich das Foto an. Er hängt es an die Wand. Laaangsaaam. Laaangsaaam. Laaangsaaam. Laaangsaaam. Genervt, dass wir das so oft schreiben? Dann ist klar, wie nervig das im Spiel ist.
Apropos nervig: Es gibt im Gedankenpalast, den wir ja eigentlich grandios finden (s.o.), auch seltsame Rätsel zu lösen, bei denen wir einen engen Gang hinunterlaufen und offenen Türen ausweichen müssen, die uns nur wieder an den Anfang des Flures setzen. Bis wir dann irgendwann die richtige Tür gefunden haben. Klingt easy-peasy? Isses aber nicht. Und ähnlich verhält es sich mit anderen Aufgaben. Einmal müssen wir aus einer Menge von rund 20 Doubles dreimal hintereinander ein richtiges Double raussuchen, bevor uns einer der anderen erreicht und uns wieder an den Anfang des Rätsels setzt. Was uns solche Ausreißer bringen sollen, ist uns völlig schleierhaft, denn sie unterbrechen unschön den Spielfluss. Und: ja, auch sie nerven.
Unser Fazit
Jedes Dontnod-Spiel muss sich den Vergleich mit dem großen "Life is Strange" gefallen lassen, das noch immer als Maßstab gilt. Von der Optik her hat sich auf jeden Fall was getan. "Twin Mirror" ist technisch ähnlich gut/schlecht/solide wie "Tell me why", allerdings wirkt die Mimik der Figuren furchtbar steif. Hintergründe sind manchmal etwas matschig, aber sonst sind uns keine nennenswerten Fehler aufgefallen. Die Sprachausgabe ist komplett auf Englisch, es gibt allerdings deutsche Untertitel, die wir auch empfehlen würden. Manchmal ist die Sprache unterschiedlich laut, und man sollte unbedingt verstehen, was die Personen sagen, sonst macht das alles keinen Sinn. Die Lippensynchronisation ist übrigens durchweg gut, das haben wir allerdings auch nicht anders erwartet. Und was bei Dontnod-Spielen auch immer wichtig ist: die Musik. Die ist bei "Twin Mirror" ganz nett, aber nicht der große Wurf und an keiner Stelle so symptomatisch wie in "Life is Strange".

Wir haben "Twin Mirror" auf einer PS5 getestet. Leider mussten wir feststellen, dass die Ladezeiten für PS5-Verhältnisse unangenehm lang waren. Aber da "Twin Mirror" insgesamt ein laaangsaaames Spiel ist, passt das natürlich ins Bild. Nervig ist es trotzdem. Außerdem hatten wir das Problem, dass unser erstes Savegame nicht mehr aufrufbar war, im zweiten Slot funktionierte es aber einwandfrei. Wir gehen aber nicht davon aus, dass es ein genereller Fehler ist.
Nachdem wir am Anfang unseres Tests Rudolf Scharping bemüht haben, nun noch ein Beispiel für die Cineasten unter uns. Es gibt bei dem französischen Spielfilm "Der eiskalte Engel" Szenen, in denen der von Alain Delon dargestellte Killer minutenlang in seiner Wohnung ist und nichts weiter passiert, als dass sein nervöser Dompfaff durch den Käfig hüpft und zwitschert. Dann setzt der Killer seinen Hut auf. Wer an solchen Szenen Freude hat, wird auch mit "Twin Mirror" Spaß haben.
Entschleunigt einen Fall lösen. Was will man in Zeiten von Corona mehr?
"Twin Mirror" ist seit dem 1. Dezember 2020 für PC, PS4 und Xbox One erhältlich und kostet rund 30 Euro. Das Spiel ist kompatibel mit PS5 und Xbox Series X|S.