
Köln. "Reconquista Internet" hat inzwischen weit über 50.000 Mitglieder. Die Initiative von Jan Böhmermann will sich mit gezielten Aktionen das friedliche Internet zurückholen und rechten Trollen und ihren Netzwerken Paroli bieten. "Mit Herz und Hand und Verstand", wie es auf der Website der Bewegung heißt.
Das, was Böhmermann und sein Team da in ihren Kodex schreiben, klingt zunächst einmal ziemlich vernünftig: Die Bewegung wolle nicht "gegen" jemanden sein, sondern lieber "für" etwas. Man wolle keinen Krieg führen, sondern Liebe im Netz verbreiten. Das ist eigentlich nichts, wogegen man irgendetwas haben könnte - und doch wird immer wieder Kritik an dem Projekt laut.
Die Kritikpunkte lassen sich grob auf zwei herunterbrechen. Zum einen gibt es Menschen, denen das Engagement für ein tolerantes Miteinander offenbar nicht in die eigene Coolness passt. Jan Fleischhauer bezeichnete die Aktion und die Sendung "Neo Magazin Royale" in einem Spiegel-Online-Artikel als "Erziehungs-TV" und Besserwisserei - und Böhmermann als den "Bademeister der Humor-Szene".
Das Echo folgte prompt - zum Beispiel von Schauspieler Christian Ulmen:
Kritik an Blocklisten
Zum anderen gibt es Kritiker, die sich vor allem an einer bestimmten Aktion von "Reconquista Internet" stören. Kurz nach dem Start veröffentlichten die Aktivisten unter einem YouTube-Video die Twitter-Konten von rechten Trollen und ihren Verbindungen. Die Aktivisten riefen dazu auf, die rechten Filterblasen mit "Liebe" zu fluten - oder sie einfach zu blockieren.
Über den Fall berichteten diverse Blogs und Medienjournalisten. Jochen Bittner von der Zeit kritisiert beispielsweise, dass Böhmermann auf den Listen rechte Twitter-Trolle mit konservativen oder regierungskritischen Twitter-Nutzern in einen Topf werfe und bezeichnet seine Block-Aktion als "totalitär".
Und das ist ziemlicher Blödsinn - aus mehreren Gründen:
1. Klar gibt es Unterschiede zwischen einer (vielleicht nicht ganz so rechten) Erika Steinbach und einem anonymen, rechtsradikalen Internet-Troll. Trotzdem verdienen es beide gleichermaßen, auf Twitter blockiert zu werden. Beide verbreiten Hass und Lügen - und Erika Steinbach sogar in ganz besonders hoher Frequenz. Niemand muss ihr zuhören. Gleiches gilt für Blogger wie Roland Tichy, Emma Richter oder wen auch immer.
2. Es ist sicherlich nicht "totalitär", wenn Twitter-Nutzer von ihrem Recht Gebrauch machen, diese Leute zu blockieren. Wer auf Twitter blockt, schränkt nicht die Redefreiheit eines anderen Menschen ein - er schaltet sie in seinem eigenen Kosmos stumm. Demokratie und Meinungsfreiheit bedeuten schließlich, dass jeder seine Meinung sagen kann - aber niemand ist verpflichtet, sich diese auch anzuhören.
3. Die Blocklisten von "Reconquista Internet" sind keine Aktion sondern eine Reaktion. Rechte Aktivisten und Parteien fluten das Netz seit Jahren mit ihrem Hass - und arbeiten gleichzeitig selbst mit Blocklisten. Bereits seit Wochen berichten Twitter-Nutzer unter dem Hashtag #afdpaninialbum, dass sie offenbar von der AfD und ihren Politikern geblockt werden - obwohl sie niemals mit diesen in Kontakt standen. Zum selben Schluss kommt auch "Reconquista Internet", wie die Bewegung in einer Mitteilung schreibt.
Wenn Liebe mehr nervt als Hass
Allem Anschein nach blockt also auch die AfD im großen Stil und mit System - wohlgemerkt als Volksvertreter(!). Betroffene können sich auf Twitter nicht mehr über die Positionen der Partei informieren oder gar reagieren, während die AfD und ihre Politiker ungestört Hass ins Netz kippen. Ein Aufschrei wie bei Böhmermann? Der blieb bislang aus.
Es läuft irgendwas gründlich schief, wenn man sich an einer Bewegung abarbeitet, die das Netz mit "Liebe fluten" will - während man die Frechheiten rechter Parteien inzwischen in die Kategorie "egal" schiebt. Wenn rechtsradikale Trollnetzwerke in den Medien monatelang kaum Beachtung finden, aber eine Gegenbewegung für einen Aufschrei sorgt. Allein das zeigt, wie sehr sich der Diskurs bereits verschoben hat. Wenn allein das Wort "Liebe" nervöser macht als der tägliche Hass im Netz.
"Reconquista Internet" ist die Gegenbewegung, die uns in den vergangenen Jahren als Gegenpol zu rechter Propaganda gefehlt hat. Es wäre schlau, sie zu unterstützen und lieber den Rechten auf die Finger zu gucken. Wenn man das mit seiner eigenen Coolness vereinbaren kann.