
Bielefeld. Der Hermannslauf ist kein Spaziergang - fünf Euro ins Phrasenschwein. Auch Reiner Giersch weiß das. 35 Mal lief der inzwischen 60-Jährige den Teuto-Klassiker. Auch bei der bislang letzten Auflage im Jahr 2019 war er dabei. Er war fit und er fightete verbissen. Womöglich kämpfte der Veteran aber härter, als es sein Körper zuließ. Zwischen Osning- und Bodelschwinghstraße passierte es dann: Giersch stürzte und schlug mit dem Kopf auf.
Nachfolgende Läufer und Augenzeugen kümmerten sich um den Verletzten. Hier hätte die Geschichte eigentlich in einem Krankenwagen enden müssen. Nicht mit Giersch! Der stand nach kurzer Zeit auf, ließ die verdutzten Helfer stehen und brachte das Rennen zu Ende. Davon weiß er nichts mehr. Der Schlag auf den Kopf hatte sein Gedächtnis gelöscht. Erst im Ziel wurden seine Söhne misstrauisch, karrten den blutenden Vater ins Krankenhaus, wo dieser nach Stunden seine Wahrnehmung wieder erlangte.

Giersch hatte sich auf der Suche nach den fehlenden Erinnerungen damals an nw.de gewandt. Tatsächlich meldeten sich die Erstversorger, erzählten ihm, was passiert war, schimpften ihn ein bisschen aus und nahmen, angesichts des komplett Wiedergenesenen, amüsiert kleine Dankeschön-Geschenke entgegen.
Sein eigenes Gehirn hat den Tag nicht mehr rekonstruiert
Die Geschichte seines heroischen Kampfs bei seiner ganz persönlichen "Schlacht im Teutoburger Wald" hat Giersch sich erzählen lassen. Sein eigenes Gehirn hat den Tag bis heute nicht mehr rekonstruiert. Durch seine Recherche weiß der Läufer aber, dass der Unfall in einer Senke gleich hinter der Schutzhütte oberhalb der Habichtshöhe passiert war. Kein unbekanntes Terrain für den Hermannslauf-Routinier, denn dieser Streckenabschnitt zählt zu seinem Trainingsgebiet.
34 Mal in Folge hatte Giersch die Strecke bezwungen, einmal hat der schwere Parcours - gewissermaßen - ihn zur Strecke gebracht. Diese Rechnung will der Bielefelder begleichen. Und er hat seinen Gegner, diese eine Stelle, die mittlerweile in Läuferkreisen den Namen "Giersch-Kuhle" trägt, voll aufs Korn genommen. "Ich bin im Training seitdem sicher 50 Mal da vorbei gekommen", erzählt der Unverwüstliche.
Die Rechnung mit der "Giersch-Kuhle" ist weiter unbeglichen
Das hätte eine schöne Party gegeben: Für 2020 hatten sich einige seiner Ersthelfer und seine Söhne vorgenommen, am Veranstaltungstag genau dort, wo der Sturz stattgefunden hatte, auf Giersch zu warten. "Da hätte ich auch angehalten", sagt er. Corona machte einen Strich durch jene Rechnung, die damit weiter offenblieb.
In seinem ersten Jahr als M 60 hatte sich der Bielefelder zudem eine gute Platzierung erhofft: "Sicher nicht unter den Top-Drei, aber als Jüngster der Altersklasse zählt man ja meist zu den Besseren. Bis März hatte ich richtig gut trainiert und war hoch motiviert."
Seine Erinnerung hat er verloren, seinen trockenen Humor aber nicht
Den "virtuellen Herrmann" will Giersch laufen - aber nicht im Teuto. "Mal schau'n, wo ich die 31 Kilometer zusammen kriege", grübelt er. Der Oktober-Termin für den ersten Nach-Corona-Hermann behagt ihm aufgrund des Trainings im Sommer nicht so. Egal - der Mann ist hermannslaufverrückt: "Ich will laufen. Zwei Wochen später heiratet mein Sohn - da hat er Glück, dass sich die Termine nicht überschneiden." Einen Teil seiner Erinnerung mag er verloren haben, seinen trockenen Humor aber nicht.
Reiner Giersch wird auch zwei Jahre nach seinem spektakulären Sturz noch auf die Geschichte angesprochen. Aber er macht jeden Spaß dazu mit, hält auch artig das Schild "Giersch-Kuhle" für ein Foto in die Höhe. Veranstaltungs-Urgestein Rudi Ostermann besuchte ihn damals und schenkte ihm einen kleinen Pokal. "Das wird wohl der einzige sein, den ich je gewinne", scherzt Giersch.