OWL Crime - mit Podcast

Zirkusstreit in Rheda-Wiedenbrück: Chef schlägt mit Baseballschläger zu

Vor Gericht müssen sich Henry B. und weitere Familienangehörige wegen versuchten Mordes verantworten. In der aktuellen Folge von Ostwestfälle geht es unter anderem um ihre turbulente und fragwürdige Verteidigungsstrategie.

Henry B. (m.) mit seinen beiden Strafverteidigern Carsten Ernst (l.) und Senol Önder. | © Archivbild: Jürgen Mahncke

Moritz Trinsch
30.05.2024 | 03.06.2024, 09:52

Alle vier Jahre gastiert der Familienzirkus „Lollipop“ an der Johannisschule in Rheda-Wiedenbrück - so auch im Februar 2023. Rund 300 Grundschüler sind eingeladen, sich selbst als Zirkusartisten auszuprobieren und zusammen mit den Profis ihre eigene Show auf die Beine zu stellen. Doch kurz vor dem Start der Projektwoche kommt es zu einer brutalen Attacke, bei der ein ukrainisches Ehepaar, das für den Auf- und Abbau des Zirkus verantwortlich ist, lebensgefährlich verletzt wird.

Mit einem Baseballschläger bewaffnet öffnet Henry B., Zirkusdirektor und Chef des Ehepaars, am 19. Februar 2023 dem 35-jährigen Ukrainer und seiner 37-jährigen Frau die Tür seines Wohnwagens. Ohne jede Vorwarnung schlagen er und sein Stiefvater sowie sein Halbbruder auf die beiden Opfer ein. Immer und immer wieder. Maria K., die Lebensgefährtin von B., ruft aus dem Wohnwagen: „Man wird euch töten.“

„Die Körper der beiden waren vollständig zerstört, was das Knochengerüst anbelangt“, sagt NW-Reporter Jürgen Mahncke, der in der neuesten Folgen von Ostwestfälle, dem True-Crime-Podcast der Neuen Westfälischen, zu Gast ist. Zusammen mit Moderatorin Birgitt Gottwald spricht er über die Motive der Tat, die Auswirkungen auf den seit sechs Generationen bestehenden Familienzirkus und die turbulente Verteidigungstaktik der Angeklagten vor Gericht.

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Der Zirkusstreit in Rheda-Wiedenbrück - Alle Fakten im Überblick

  • Ein ukrainisches Ehepaar wird am 19. Februar 2023 vom Zirkusdirektor Henry B. und Teilen seiner Familie mit Baseballschlägern verprügelt und mit einem Messer bedroht. Der 35-jährige Ukrainer wird dabei lebensgefährlich verletzt und nur durch eine Notoperation gerettet.
  • Eigentlich haben die Opfer mit ihrem B. über fehlenden Arbeitsverträge und ausbleibende Lohnzahlungen sprechen wollen. Doch dieser hat unvermittelt zugeschlagen.
  • Vor Gericht schweigen die vier Angeklagten zunächst. Als B. zwei seiner Verteidiger entlässt, fängt ihre Verteidigungsstrategie an zu bröckeln.
  • Erst belastet sich B. selbst schwer, dann sagen sein Stiefvater und sein Halbbruder aus und legen ein Geständnis ab.
  • Die anfängliche Mordanklage wird nicht aufrechterhalten, stattdessen müssen sich drei der vier Täter wegen gefährlicher Körperverletzung verantworten, die vierte Täterin kommt mit einer Geldstrafe davon.

Ehepaar arbeitet erst seit wenigen Monaten für den „Lollipop“-Zirkus

Hintergrund der Attacke sollen Streitigkeiten um Arbeitsverträge und Lohnzahlungen gewesen sein. Das Ehepaar habe erst seit knapp drei Monaten für den „Lollipop“-Zirkus gearbeitet.

Beide seien noch vor Ausbruch des Kriegs in der Ukraine nach Deutschland geflüchtet und haben sich dem Zirkus angeschlossen. Ihre beiden Kinder seien in der Obhut der Oma. „Wir haben jeden Tag gearbeitet. Papiere, die uns der Zirkuschef ausstellte, wurden vom Jobcenter nicht anerkannt. Immer wieder pochten wir auf einen Arbeitsvertrag. Der wurde uns für Februar dieses Jahres, dem Beginn der neuen Saison, versprochen. Wir hatten große Hoffnung, ab diesem Zeitpunkt ordentlich arbeiten zu können“, so das Opfer vor Gericht aus.

Im bekannten und beliebten Zirkus "Lollipop" ist es Anfang 2023 zu einem Streit zwischen Zirkusleuten gekommen. - © Archiv: Wolfgang Wotke
Im bekannten und beliebten Zirkus "Lollipop" ist es Anfang 2023 zu einem Streit zwischen Zirkusleuten gekommen. | © Archiv: Wolfgang Wotke

Doch offenbar hat der Zirkuschef sein Versprechen nicht gehalten. Ohne Arbeitsvertrag begannen sie im Februar ihre Arbeit, doch weder der vereinbarte wöchentliche Lohn von 1.000 Euro für das Ehepaar noch der Arbeitsvertrag sind gekommen. „Wir wollten für den Zirkus nicht mehr arbeiten“, sagt der Ukrainer.

Hauptangeklagter Henry B. scheitert mit Täter-Opfer-Ausgleich

Als am 11. August 2023 der Prozess gegen die vier Angeklagten vor dem Landgericht Bielefeld beginnt, schweigt das Quartett zunächst. Sie haben einen „Familienbeschluss“ gefasst und wollen nicht aussagen. Angeklagt hat sie die Staatsanwaltschaft wegen versuchten Mordes und schwerer Körperverletzung.

Um den Prozess für den Hauptangeklagten Henry B. vorzeitig zu beenden, bringen er und einer seiner drei Verteidiger, Carsten Ernst, am dritten Verhandlungstag einen Täter-Opfer-Ausgleich ins Spiel. B. sei bereit, den Opfern 6.000 Euro in bar und zusätzlich 10.000 Euro zu zahlen, so Anwalt Ernst vor Gericht.

Doch dafür steht die Mordanklage im Weg, sagt Richter Carsten Nabel: „Ich verstehe nicht, wohin die Sache gehen soll. Wird es dann eine Verteidigung, die Notwehr als Grund der Attacke sieht? Einen Freispruch mit einem Zahlungsangebot wird es nicht geben. Ich werde zumindest an einer Körperverletzung festhalten müssen.“

Henry B. entlässt zwei Verteidiger - Turbulente Minuten im Gerichtssaal

Auch der vierte Prozesstag birgt Überraschungen. Die erste offenbart Henry B. gleich zu Beginn. Statt mit drei Verteidigern, mit denen der Zirkusdirektor in den Prozess gestartet ist, erscheint B. nur noch mit einem. „Ich entbinde meinen Pflichtverteidiger Senol Önder sowie meinen Wahlverteidiger Carsten Ernst von ihren Aufgaben“, so B. in einer kurzen Ansage.

Laut „Nw.de“ soll es Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Angeklagten und seinen Verteidigern gegeben haben. Die sollen, entgegen des „Familienbeschlusses“ eine Aussage von B, gefordert haben.

Das rote Zirkuszelt war anlässlich einer Projektwoche an der Johannisschule an der Lessingstraße in Rheda aufgebaut. - © Archiv: Wolfgang Wotke
Das rote Zirkuszelt war anlässlich einer Projektwoche an der Johannisschule an der Lessingstraße in Rheda aufgebaut. | © Archiv: Wolfgang Wotke

Dann beginnen turbulente Minuten im Gerichtssaal. Erst sagt B, klar und deutlich: „Nur ich habe geschlagen, niemand anderes hat geschlagen“. Dann kommt es zum Streit zwischen dem Mitangeklagten und Stiefvater von B., Patrick B. und seinem Verteidiger. „Wir müssen uns jetzt erklären“, so der Anwalt so laut, dass es alle im Saal hören. „Entweder schweigen Sie zu dem, was passiert ist, oder sie erzählen die ganze Wahrheit. Ich kann für Sie etwas erklären, wenn Sie möchten. Was wollen wir? Wollen wir sagen, wie es gewesen ist oder wollen wir schweigen?, so der Verteidiger weiter.

Zwei Angeklagte sagen aus - Weinkrampf bei Henry B.

Nach einer kurzen Unterbrechung erklärt sich Patrick B. und beschuldigt das ukrainische Ehepaar ihre finanziellen Forderungen immer weiter erhöht zu haben. Sein Stiefsohn sei völlig verzweifelt gewesen und habe ihn angerufen. Ich bin nach Rheda gefahren, um die Probleme zu lösen. Im Zirkuswagen bat ich Marie, die Lebensgefährtin von Henry, das ukrainische Ehepaar zu einer gemeinsamen Besprechung einzuladen. Gegen 18 Uhr klopften beide an die Tür des Zirkuswagens. Ehe ich mich versah, schlug Henry auf die beiden mit einem Baseballschläger ein. Der Mann taumelte zurück, lag draußen auf dem Boden, alles war durcheinander, ich sah immer wieder Schlagbewegungen in Richtung Ehepaar. Ich bin raus, und wollte Henry beruhigen. Ich hörte, sie haben ein Messer. Ich boxte auf sie ein. Ich schäme mich für mein Verhalten“, endet die Ausführung von Patrick B.

Landgericht Bielefeld: Prozessauftakt gegen vier Angeklagte des Zirkus "Lollipop", der bei der Tat in Rheda-Wiedenbrück gastierte. - © Archiv: Jürgen Mahncke
Landgericht Bielefeld: Prozessauftakt gegen vier Angeklagte des Zirkus "Lollipop", der bei der Tat in Rheda-Wiedenbrück gastierte. | © Archiv: Jürgen Mahncke

Auch der dritte Angeklagte und Stiefsohn von Henry B., Diego B., hat im Anschluss sein Schweigen gebrochen. Henry B. selbst hat während der Statements seine Tränen nicht mehr zurückhalten können. Laut Prozessbeobachtern habe er kurz vor einem Zusammenbruch gestanden.

Die ursprüngliche versuchte Mordanklage hat das Gericht nicht aufrechterhalten können. Henry B., sowie sein Stiefvater und Stiefsohn müssen sich wegen gefährlicher Körperverletzung verantworten. Henry B. muss als Haupttäter für drei Jahre und sechs Monate in Gefängnis, sein Stiefvater bekommt eine Strafe von zwei Jahren auf Bewährung und Diego B. ist zu einem Jahr Jugendstrafe verurteilt worden. Maria K. muss sich wegen Bedrohung verantworten und kommt mit einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen a 15 Euro davon.

Aus für den Zirkus „Lollipop“

Für den bekannten und beliebten Zirkus bedeutet all das, das Aus. Der Zirkus ist verkauft worden, der gesamten Zirkusfamilie ist die Existenzgrundlage entzogen worden. In der langen Familientradition sind die Zirkusgeschäfte immer vom Vater auf den Sohn weitergegeben worden. Dies wird jetzt für Diego B., den jüngsten im Bunde, nicht mehr geschehen.

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