OWL Crime - mit Podcast

Messerattacke am Jahnplatz: Wie zwei Männer einer Bielefelderin das Leben retteten

Die Menschen am Jahnplatz stehen unter Schock. Am 20. September 2019 sticht ein Mann vor Dutzenden Leuten auf seine Ex-Partnerin ein. In der aktuellen Podcast-Folge geht es um das Ende einer Gewaltspirale.

Während am 20. September 2019 oben auf dem Jahnplatz „Fridays for Future“ demonstriert, ermittelt nach der Messerattacke unten im gesperrten Tunnel die Mordkommission. | © Christian Mathiesen

22.06.2023 | 28.02.2024, 15:21

Bielefeld. Selten hatte der Jahnplatz als zentraler Ort der Bielefelder Innenstadt so einen Schockzustand erlebt: Oben blitzen die Blaulichter zahlreicher Polizei- und Rettungsfahrzeuge. Einsatzkräfte kümmern sich um weinende Kinder und schockierte Augenzeugen. Unten auf dem Bahnsteig im Jahnplatztunnel der Stadtbahnhaltestelle hat am 20. September 2019 ein Mann in größter Wut immer wieder auf seine Ex-Partnerin eingestochen. Die blutige Messerattacke traf Bielefeld buchstäblich ins Herz.

Die Vorgeschichte der Tat macht bis heute sprachlos. Denn der Messerstecher hatte gegenüber dem Opfer vorher nicht mit Gewalt und Morddrohungen gespart. In der neuen Folge von "Ostwestfälle", dem True-Crime-Podcast der Neuen Westfälischen, spricht Moderator Frank Philipp mit NW-Autor Jens Reichenbach ausführlich über den Fall, den er vom ersten Tag an begleitet hatte. Es geht nicht nur um die brutale Gewalt, sondern auch um die Helden am Tatort, eine schockierende Vorgeschichte und um eine Gesellschaft, die Frauen in solchen Beziehungen so gut wie keinen Schutz bieten kann.

Die Messerattacke am Jahnplatz - Alle Fakten im Überblick

Am 20. September 2019 warten hunderte Menschen am Bahnsteig der Stadtbahn im Jahnplatztunnel auf ihre einfahrende Bahn, als plötzlich ein Mann mit seinem Messer auf eine Frau einsticht.

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Bei dem Täter handelt es sich um den Ex-Partner. Er soll die Bielefelderin jahrelang gedemütigt und geschlagen haben. Auch die Kinder erlebten Gewalt. 2018 trennte sie sich von ihrem Peiniger.

Ohne vorherige Auseinandersetzung nahm er den Kopf seiner "Ex" in den Schwitzkasten und stach mit seinem Messer immer wieder zu. Die Gerichtsmediziner zählten 21 Schnitte.

Zwei Zeugen gingen sofort dazwischen, um den Mann von der Frau zu trennen und weitere Stiche auf das Opfer zu verhindern. Auch die Helfer wurden durch Stiche verletzt.

Das Gericht verwarf im Urteil nach den Ermittlungen der Mordkommission den Vorwurf des versuchten Totschlags. Das Urteil von acht Jahren und neun Monaten gab es wegen "vorsätzlicher schwerer Körperverletzung".

Panik im Bielefelder Jahnplatz-Tunnel

Die 43-jährige Bielefelderin ist an jenem sonnigen 20. September gerade auf dem Heimweg. Sie kommt von der Polizei, weil ihr Ex-Partner sie mal wieder mit dem Tod bedroht hat. Jetzt sitzt sie im Jahnplatz-Tunnel und wartet auf die Bahn. Plötzlich taucht der Ex vor ihr auf. Er ist in Rage, zückt ein Messer, brüllt und nimmt ihren Kopf in den Schwitzkasten. Auf diese Weise sticht er immer wieder auf das Gesicht des Opfers ein und verletzt sie schwer. Bei der Messerattacke trifft er auch ihre Hände und Arme, die sie zum Schutz hochreißt. Rechtsmediziner zählen später 21 Stiche und Schnitte. Eine Mordkommission wird eingeschaltet.

Ghassan Al Yaesiri (l.) und Redoan Elouarghi haben der Bielefelderin durch ihr mutiges Einschreiten im Jahnplatztunnel das Leben gerettet. - © Jens Reichenbach
Ghassan Al Yaesiri (l.) und Redoan Elouarghi haben der Bielefelderin durch ihr mutiges Einschreiten im Jahnplatztunnel das Leben gerettet. | © Jens Reichenbach

Panik bricht auf dem Bahnsteig aus. Manche laufen weg, andere erstarren und insgesamt sieben Menschen helfen der Verletzten instinktiv. Sie kommen der Angegriffenen zur Hilfe und werden zu Helden. Zwei von Ihnen sind Ghassan Al Yaesiri und Redoan Elouarghi, die zufällig in der Nähe stehen. Sie gehen auf den Messerstecher los. Al Yaesiri umklammert den Täter, zieht ihn vom Opfer weg. Doch der macht sich frei, sticht nun auch auf den Helfer ein, Elouarghi zieht seinen Gürtel und hält den Messerstecher mit seinem als Peitsche eingesetzten Kleidungsstück auf Distanz.

Bielefelderin bedankt sich bei ihren Rettern

Eine ältere Frau greift sich das schwer verletzte Opfer und zieht es – mit erstaunlicher Kraft – vom Täter weg. Sie alle handeln instinktiv, bringen sich dabei in ernste Lebensgefahr und werden dadurch für die 43-Jährige zu Helden. Nachdem ihrer Krankenhausentlassung bedankt sie sich bei ihren Lebensrettern. Sie ist überzeugt: "Ohne Eure Hilfe wäre ich nicht mehr am Leben." Eine innige und tränenreiche Umarmung macht die drei zu engen Verbündeten.

Die Bielefelderin hatte vorher jahrelang erleben müssen, dass man ihr und ihren vier Kindern nicht helfen kann. Denn Demütigungen, Bedrohungen und Gewalt gehörten für sie schon lange zum Alltag. Wenn der 45-Jährige seine Medikamente nicht genommen hatte, wurde er aggressiv und unberechenbar. Das bekamen auch Menschen außerhalb der Familie des Tatverdächtigen zu spüren.

Doch seine Ausraster hatten niemals Konsequenzen. Selbst die endgültige Trennung des Paares 2018 beendete das Martyrium nicht. "Er hat mich nicht als Frau gesehen, er hat mich behandelt wie eine Sklavin", sagte sie später vor Gericht. In der Trennung sah er seine vermeintliche Ehre verletzt und sann auf Rache.

Messerstecher will sich zwei Wochen vor der Tat in Bielefelder Klinik einweisen

Die Polizei sieht nach den ersten Drohungen 2018 "keine ernste Gefahr", die von dem Tatverdächtigen ausgehe. Ermittlungen werden zunächst nicht angestrebt. Im Mai 2019 erwirkt die 43-Jährige ein gerichtliches Annäherungsverbot, das der spätere Täter aber ignoriert. Selbst der Versuch des Täters, sich vor der Tat selbst in eine psychische Klinik einzuweisen, scheitert. Auch die Ärzte sehen die Gefahr, die von ihm ausgeht, nicht. Zwei Wochen später trifft er – wohl zufällig – an der Jahnplatz-Bahnsteig auf "die Ex" und rastet aus.

Am 21. April 2020 fällt das Landgericht ein scharfes Urteil. Der Täter wird nach der Messerattacke wegen vorsätzlicher schwerer Körperverletzung zu acht Jahren und neun Monaten Gefängnis verurteilt. Eine Tötungsabsicht gegenüber dem Opfer, auf die die Staatsanwaltschaft plädiert hat, wird ihm nach den Ermittlungen der Mordkommission aber nicht attestiert. Trotz seiner Persönlichkeitsstörung gilt er als voll schuldfähig. Der Verurteilte, der in einer geschlossenen Psychiatrie untergebracht werden wollte, landet trotzdem im Gefängnis.

Bielefelder Gericht: "Gesellschaft schafft es nicht, Frauen zu schützen"

Der Vorsitzende Richter Christoph Meiring sagte damals: "Der Fall habe gezeigt, dass unsere Gesellschaft es nicht schafft, Frauen vor solchen Tätern zu schützen." Und deshalb lebt die Bielefelderin auch immer noch in Angst. Der Täter sitzt zwar hinter Schloss und Riegel. Sollte er sich aber gut führen, könnte er nach Zwei Dritteln der abgesessenen Haft einen Antrag auf Bewährung stellen.

Das wäre schon im Sommer 2025 möglich. "Ich habe immer noch viel Angst", sagt die für ihr Leben entstellte Bielefelderin heute. Jeder Blick in den Spiegel löse bei ihr all die Erinnerungen an jene Messerattacke wieder aus. "Mir geht es immer noch nicht gut." Ihre Traumatherapie ist längst noch nicht abgeschlossen.

Direkt nach dem Urteil sagt sie vor dem Richter und der Staatsanwaltschaft: "Er hört nicht auf, bis ich tot bin." Deshalb will die Bielefelderin mit den vier Kindern untertauchen, Namen und Wohnort wechseln. Doch die Bürokratie lässt sie verzweifeln. Trotz finanzieller Unterstützung durch den Opferschutzverein Weißer Ring hakt es an vielen Stellen. Eine wichtige Trauma-Kur sei unmöglich, weil sie ihren jüngsten Sohn nicht betreut kriege.

Eine vom Hautarzt empfohlene Laserbehandlung des Gesichtes ist dem Opfer bis heute nicht bewilligt worden. Sie kämpfe sich immer noch durch unzählige Anträge und bleibe dabei immer wieder stecken. Eine vollständige seelische Erholung ist so nie zu erreichen.