Holzminden. Es sind kalte Tage für Oktober – die kältesten seit 1945, wie der Deutsche Wetterdienst später bilanzieren wird. Über den Hügeln des Höxteraner Landes kreisen Hubschrauber, über die karge Senne fliegen Tornados hinweg, sehr viel langsamer, sehr viel niedriger als sonst. Unter ihnen kämpfen sich Hunderte Polizisten durch die Herbstlandschaft. Sie sind auf der Suche nach zwei Kollegen. Doch Hoffnung, Jan G. und Nils E. (alle Namen geändert) noch lebend zu finden, haben sie nicht mehr.
Als in den frühen Stunden des 12. Oktober 1991 die 34 und 30 Jahre alten Beamten mit ihrem Dienstfahrzeug „Hilde 10-35", einem dunkelroten VW Passat, die schmale Landesstraße 549 entlangfahren, wähnen sie sich auf einer normalen Einsatzfahrt. Ein Anrufer hat um 2.29 Uhr über eine Notrufsäule einen Wildunfall gemeldet.

Doch auf dem kleinen Parkplatz Rottmündetal liegt kein verletztes Wild, steht kein hilfesuchender Autofahrer. Es ist eine perfide Falle, in die die Beamten gelockt wurden. Denn hier, nicht weit vom Ortsrand Boffzens entfernt, eröffnet Gerd H. mit einem Sturmgewehr G 3 das Feuer auf die Polizisten G. und E. Zusammen mit seinem Bruder Wilfried H. schafft er die Toten fort. In der neuesten Folge von Ostwestfälle, dem True-Crime-Podcast der Neuen Westfälischen, sprechen Birgitt Gottwald und Dietrich Eickmeier über den Fall.
Die Polizistenmorde von Holzminden - alle Fakten im Überblick
- Am frühen Morgen des 12. Oktobers 1991 sind die zwei Polizeibeamten Jan G. und Nils E. (Namen geändert) mit ihrem Einsatzfahrzeug unterwegs.
- Gerufen wurden sie zu einem Wildunfall.
- Am Einsatzort angekommen, eröffnet Gerd H. gemeinsam mit seinem Bruder Wilfried das Feuer auf die beiden Polizisten und verschleppt die Leichen.
- Nach langer Suche wird der ausgebrannte Dienstwagen "Hilde 10-35" gefunden. Die Polizisten bleiben weiter verschwunden.
- Erst als sich Wachleute aus der Bielefelder JVA beim Hören des fingierten Notrufs an Gerd H. erinnern, kommt Bewegung in den Fall.
- Am 16. Oktober rückt das SEK nach Bredenborn aus, dem Heimatort von H., um ihn festzunehmen.
- Gerd H. und sein jüngster Bruder lassen sich festnehmen, schweigen jedoch. Der dritte Bruder, Wilfried H., versucht, sich selbst zu töten und ist deshalb nicht vernehmungsfähig.
- Gerd H. gesteht schließlich und gibt an, die Leichen in der Senne vergraben zu haben. Auch sein Bruder wird wegen Beihilfe zum Mord verurteilt. Manfred J. habe sich jedoch im Glauben befunden, seinen Bruder lediglich zum Wildern in den Wald zu begleiten.
Die Ehefrauen wenden sich verzweifelt an die Öffentlichkeit
Am Tatort bleiben Blut, Haare und Patronenhülsen zurück – ein entsetzliches Bild, das die Kollegen später Schlimmes ahnen lässt. Sie sind, nachdem sie über Stunden nichts von G. und E. hören, noch in der Dunkelheit zu dem Parkplatz gefahren. Sofort startet eine der größten Suchaktionen, die die Bundesrepublik bis dahin erlebt hat. Hundertschaften durchkämmen das Gebiet, auf der Weser werden Suchboote zu Wasser gelassen, um nach den Verschwundenen zu suchen.
Tornadopiloten der Rheinarmee versuchen, mit Infrarotkameras Spuren auszumachen. Bald rückt die Senne in den Fokus. Am Sonntag entdeckt ein Förster auf dem Truppenübungsplatz in der Nähe von Augustdorf den Dienstwagen "Hilde 10-35". Er ist ausgebrannt. Die Täter haben eine brennbare Flüssigkeit über den Wagen gegossen und ihn angesteckt. Einschussspuren in der Karosserie erhärten den Verdacht, dass den Beamten Entsetzliches zugestoßen sein muss.
Trotz intensiver Suche bleiben sie verschwunden. Einzig eines ihrer Funkgeräte wird ein paar Meter entfernt vom Autowrack gefunden. Die Ehefrauen von G. und E. bitten verzweifelt die Öffentlichkeit um Hilfe.
Zunächst gibt es keinen Verdächtigen
Ratlosigkeit herrscht in den Sonderkommissionen, die in Hildesheim, Holzminden und Bielefeld gebildet werden. Die Fahnder können sich keinen Reim auf den Hintergrund der unfassbaren Tat machen. Sogar ein terroristischer Anschlag wird für möglich gehalten.
Doch bald halten es die Ermittler für wahrscheinlicher, dass der Täter aus Hass oder Rache handelte. Einen Verdächtigen hat niemand im Visier. Erst als der fingierte Notruf ab Dienstag, 15. Oktober, über die Service-Telefonnummer 0 11 66 in Niedersachsen und NRW zu hören ist, kommt Bewegung in den Fall.
Für Fachleute des Bundeskriminalamtes steht rasch fest, dass der Sprecher, der sich als „Herr Meier" ausgab, aus dem südlichen Niedersachsen oder dem Nordosten von NRW stammt und zwischen 25 und 30 Jahre alt ist. Tausende Bürger hören den Notruf ab. Viele melden sich und sagen, sie wüssten möglicherweise, wer mit dem Satz „Äh, gut'n Tach, Meier mein Name, ich hab'n . . . äh . . . Wildunfall" die Beamten in die tödliche Falle lockte.
Wachleute erkennen die Stimme des Tatverdächtigen
Unter ihnen sind auch Männer, die sich sicher sind, dass sie den Sprecher kennen. Wachleute aus der Bielefelder Justizvollzugsanstalt sind überzeugt, dass die Stimme Gerd H. aus Bredenborn gehört – einem Klein-Kriminellen, der bis zum 12. September 1991 in Ummeln eine Haftstrafe verbüßte.
Er ist bekannt als leidenschaftlicher Jäger, als Waffennarr. Immer wieder ist der gelernte Maschinenschlosser mit der Polizei aneinandergeraten. Längst ist ihm der Jagdschein entzogen worden, ebenso die Waffenbesitzkarte. Die Sanktionen beeindrucken den 29-Jährigen nicht.
Wilderei und diverse Verstöße gegen das Waffengesetz haben ihn mehrfach vor Gericht gebracht. Eine Freiheitsstrafe wegen Diebstahls musste er absitzen, bis er vorzeitig entlassen wurde – wegen guter Führung. In der Haft habe er aus seinem Hass auf Polizisten kein Geheimnis gemacht, erzählen Mithäftlinge.
Die Festnahme verläuft nicht ohne Komplikationen
Es ist der 16. Oktober, an dem das Sondereinsatzkommando (SEK) Bielefeld zur Festnahme ins Dorf Bredenborn einrückt. An diesem Abend spielt die deutsche Fußball-Nationalmannschaft gegen Wales. Es geht um die Qualifikation für die Europameisterschaft 1992. „Wir haben die Halbzeit abgewartet", erinnert sich Einsatzleiter Erhard Küster. „Die Nachbarn hatten angedeutet, dass alle vor dem Fernseher sitzen würden." Mit einer Ramme verschaffen sich die Beamten Zutritt.

Während sich Gerd H. und sein jüngster Bruder Andreas H. (25) widerstandslos im Erdgeschoss des Fachwerkhauses festnehmen lassen, hat sich der Zweitälteste in der oberen Etage verbarrikadiert. Als Küster und seine Kollegen in den Raum gelangen, liegt Manfred J. schwer verletzt vor ihnen.
Aufgrund von Stichwunden an Hals und Brust schwebt der 26-Jährige in Lebensgefahr. „Wir haben zunächst an ein weiteres Tötungsdelikt gedacht", sagt Erhard Küster. Eine Waffe ist in dem Zimmer erst nicht zu finden. So nehmen die Beamten nicht nur die Brüder in Gewahrsam, sondern auch die herzkranke Mutter.
Hausdurchsuchung führt zu Waffenfunden
Im Verlauf des nächsten Tages wird unter einer Kommode ein Messer gefunden. Manfred J. hat versucht, sich zu töten. Trotz der Verhaftungen - das Schicksal von Jan G. und Nils E. ist immer noch nicht geklärt. Gerd H. schweigt beharrlich. Manfred J. ist nicht vernehmungsfähig. Erst als dem 29-Jährigen die Aussage seines Bruders Andreas vorgehalten wird, gesteht er.
Gerd H. gibt zu, die zwei Polizisten zu dem Parkplatz gelockt, dort getötet und anschließend die Leichen in der Senne vergraben zu haben. In einem gepanzerten Fahrzeug wird er auf den Truppenübungsplatz zur Schießbahn Alpha bei Augustdorf gebracht „Wir wollten ihn abschirmen", erklärt Küster, „vor allem vor den Medien, denn über der Senne kreiste ein Hubschrauber von RTL. Gerd H. hat uns dann gezeigt, wo er die Kollegen verscharrt hatte."
Auch im Haus der Brüder geht die Suche weiter. Mit Hilfe eines mobilen Röntgengerätes finden Küster und seine Kollegen das Sturmgewehr G 3, mit dem Gerd H. die Polizeibeamten getötet hat, sowie andere Waffen, die er bei Überfällen auf Bundeswehrstandorte in Augustdorf und Stadtodendorf Jahre zuvor erbeutet hatte. Sie lagern verborgen hinter Wand- und Deckenverkleidungen.
Bredenborn steht im Fokus der Medien
Über das 1.500-Seelen-Dorf Bredenborn donnert indes ein medialer Sturm hinweg. Rasch ist vom „Mörderdorf" die Rede, schnell werden Mythen gesponnen, von den drei „Mörderbrüdern", deren Onkel schon als „Wilddieb" erschossen worden sei.

„Das liegt ihnen im Blut", steht in den Zeitungen, die sich ausführlich dem Fall widmen. Kurz nach ihrer Festnahme werden am Haus der drei Brüder, in dem sie zusammen mit ihrer Mutter gelebt haben, die Fensterscheiben eingeworfen. „Mörderhaus" pinselt jemand an die Wand und Nazisymbole.
Im September 1992 beginnt das Landgericht Hildesheim mit der juristischen Aufarbeitung des Falles. Kein einfaches Unterfangen, denn alle drei Angeklagten machen von ihrem Schweigerecht Gebrauch. Nach zweieinhalb Jahren und 180 Verhandlungstagen fällt das Urteil.
Alle Brüder werden verurteilt
Das Gericht ist überzeugt, dass Gerd H. Jan G. und Nils E. aus Hass auf die Polizei in einen Hinterhalt gelockt und erschossen hat. Wegen zweifachen Mordes verhängen die Richter eine lebenslange Freiheitsstrafe und ordnen anschließende Sicherungsverwahrung an. Der Vorsitzende Richter spricht von einer „seltenen Anhäufung schwerer Kriminalität".
Manfred J., der in der Tatnacht seinen Bruder in dem Glauben begleitet hatte, zum Wildern in die Wälder zu ziehen, muss wegen Beihilfe zum Mord für zehn Jahre in Haft. Nach Überzeugung des Gerichts war er in die Tat hineingeschlittert. „Manfreds einziges Verschulden war es, einen Bruder wie Gerd gehabt zu haben. Seine Passivität jedoch hat zum Mord an zwei Menschen geführt", sagt der Richter in seiner viereinhalbstündigen Urteilsbegründung.
Dem Jüngsten der Brüder kann kein Tatbeitrag nachgewiesen werden. Andreas H. wird trotzdem zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe verurteilt. Die Richter sehen es als erwiesen an, dass er seine Brüder unterstützt hatte, als diese Ende der 1980er-Jahre die Kaserne in Stadtoldendorf überfielen. Ihre Beute damals: ein Sturmgewehr G 3 - die spätere Tatwaffe.
Aus der Haft heraus kommt es zum Erbstreit
Seitdem sitzt Gerd H. in Haft, fast 30 Jahre sind es mittlerweile. Einen Antrag auf vorzeitige Entlassung hat die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen im Januar 2018abgelehnt. 2020 wiederum verzichtet J. auf die Prüfung auf eine vorzeitige Haftentlassung.

Aus dem Gefängnis heraus streitet er 2003 mit seinem Bruder Andreas um seinen Erbteil. Sein Vater hatte ihm den Pflichtteil verwehrt. Während Manfred J., der mit einer neuen Identität an einem unbekannten Ort lebt, sich dem väterlichen Wunsch beugt und eine Verzichtserklärung unterzeichnet, zieht Gerd H. vor Gericht.
Es sei nicht rechtens, dass ihm sein Vater den Pflichtteil entzogen habe. Zunächst hat der verurteilte Mörder Erfolg. In einer ersten Verhandlung verweist die 3. Zivilkammer des Paderborner Landgerichts noch auf gesetzliche Vorgaben, die bis ins Jahr 1919 zurückreichen. Ein Pflichtteil, so hatte damals das Reichsgericht festgeschrieben, dürfe nur dann werden, wenn ein „ehrloser und unsittlicher Lebenswandel wider den Willen der Eltern" vorliege. Das ist für die Paderborner Richter 2003 der Knackpunkt. „Ein einziges Verbrechen kann kein Lebenswandel sein."
"Man sieht ihn oft spazieren gehen"
Ein Dreivierteljahr später ziehen die Richter ein anderes Fazit. Gerd H., so urteilen sie, habe sich weitere Straftaten zuschulden kommen lassen. Sie erinnern an die Wilderei oder die Verstöße gegen das Waffengesetz, die dem Doppelmord vorausgegangen waren. „Das ist schon ein Lebenswandel", folgert die Kammer und beurteilt die Entziehung des Pflichtteils als rechtens.
Die Entscheidung hat Andreas H. keine Reichtümer eingebracht. Er lebt weiterhin in seinem Heimatort. „Er führt ein bescheidenes Leben", erzählt ein Bredenborner. Beruflich Fuß gefasst hat der Mann nie. Kleinere Jobs sichern sein Auskommen, wissen die Bredenborner und erzählen von Andreas Hilfsbereitschaft und von seiner regen Teilnahme am Dorfleben. „Man sieht ihn oft spazieren gehen", heißt es. „Er ist ein Naturfreund."
Wenn heute, über 30 Jahre nach dem Verbrechen, Andreas H. durchs Dorf geht, denkt niemand mehr an den Verdacht, unter dem er stand. Im Dorf ist man überzeugt, dass der böse Geist unter den Brüdern ganz allein der Älteste, der Gerd, gewesen ist.