Haßelmann: "In vielen Fragen gab es ein 2:1 – SPD und FDP gegen Grüne"

Frau Haßelmann, manche Beobachter sind der Meinung, dass der aktuelle Konflikt in der Ampelkoalition vor allem zulasten der Grünen geht. Sind die Grünen unter Druck? Britta Haßelmann: Nein, ich sehe uns nicht unter Druck. Wir müssen unser Handeln in der Regierung erklären. Darum geht es auch in der aktuellen Debatte. Ist es grundsätzlich schwieriger für die Grünen geworden, Politik aktiv zu gestalten? Wir müssen den Inhalt unserer Arbeit noch mehr nach außen darlegen. Ich trage meinen Teil dazu bei. Ich habe in der Fraktion deutlich gemacht, dass ich das Ergebnis des jüngsten Koalitionsausschusses mit Blick auf die verbindlichen Klimaziele ernüchternd finde. Wir sind gefordert, die Vereinbarungen zum Klimaschutz jetzt auch umzusetzen. Und wir müssen für sozialen Ausgleich sorgen, mit dem diese Maßnahmen flankiert werden. Was bedeutet das konkret im politischen Alltag? Die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Klimaforschung verpflichten uns, mehr zu tun und das 1,5-Grad-Ziel in der Klimapolitik nicht aus den Augen zu verlieren. Viele Menschen teilen dieses Ziel. Wenn es aber konkret wird, fragen sich viele: Welche Auswirkungen hat das auf meinen Lebensalltag. Daraus entsteht ein Spannungsfeld. Wie sah denn die Stimmung im Koalitionsausschuss hier aus? Im Ausschuss gab es in vielen Fragen eine 2:1-Aufstellung, SPD und FDP gegen Grüne. Dabei ist beim Klimaschutz allerdings auch allen klar, dass die unterschiedlichen Sektoren eine eigene Verantwortung haben und alle liefern müssen. Ist Verkehrsminister Wissing aus dieser Verantwortung heraus? Jeder Bereich, also zum Beispiel Energie, Gebäude oder Verkehr, muss für den Klimaschutz sein Einsparziel erfüllen. Die anderen Sektoren werden sonst an Grenzen kommen, die Defizite auszugleichen. Kein Bereich kann außen vor gelassen werden. Es wird sich niemand einen schlanken Fuß machen können. Das gilt also auch für den Verkehrssektor? Ja. Ich bin froh, dass wir mehr Investitionen in die Schiene geben. Darüber wird seit 30 Jahren gestritten. Wir schaffen einen Paradigmenwechsel, indem wir sagen, der ganz überwiegende Teil der Lkw-Maut soll dorthin fließen. Aber die 40 Milliarden Euro sind nur etwa die Hälfte des Geldes, das dort benötigt wird. Es ist wichtig, endlich anzufangen. Die Bahn bekommt nun einen wirklich relevanten Beitrag. Hinzu kommen die Gelder für die Sanierung der Straßeninfrastruktur, etwa die Brückensanierung des Autobahnnetzes. Das ist in NRW ein Riesenthema. Das Thema Kindergrundsicherung ist gerade heiß umstritten. Wird sie kommen? Ja, unbedingt. Die Kindergrundsicherung ist ein gemeinsames Projekt der Ampel. Soziale Gerechtigkeit hat für mich einen ganz hohen Stellenwert. Es ist nicht hinnehmbar, dass jedes fünfte Kind in Deutschland armutsgefährdet ist. Die Kindergrundsicherung ist auch Armutsprävention. Wenn man sich den Lebensalltag vieler Familien ansieht, erkennt man den Handlungsbedarf. Es gibt oft auch eine verschämte Armut. Was bedeutet das konkret? Denken Sie an die Teilnahme von Kindern aus armutsgefährdeten Familien an Geburtstagsfeiern, Klassenfahrten oder gemeinsamen Kinobesuchen. Für viele ist das nicht möglich. Wir haben eine Verantwortung, Teilhabe zu ermöglichen. Faire Chancen und soziale Teilhabe für alle Kinder sind wichtig. Es geht um soziale Gerechtigkeit. Wir haben das Kindergeld auf 250 Euro erhöht. Doch es gibt eine Reihe von Familien, die dies doch gar nicht erreicht, weil es angerechnet wird. Hier greift künftig die Kindergrundsicherung. Wie bewerten Sie die bisherige Arbeit der Koalition? Wir haben das im vergangenen Jahr trotz aller Unterschiede gut hingekriegt. Wir sind eine richtige Arbeitskoalition. Wir haben 100 Gesetzgebungsverfahren in Gang gebracht, davon über 20 im Bereich Klima, die auf den Ausbau der Erneuerbaren Energien setzen. Dazu gab es drei Entlastungspakete in wirklich großen Dimensionen, die klarmachen: Wir lassen niemanden hängen. Mindestlohn, Bürgergeld, Wohngeld und Kindergeld wurden erhöht. Man kann sich aus der Krise nicht heraussparen. Was sagt die grüne Parteibasis zum Atomkurs? Die Entscheidungen zum Ausstieg aus der Atomenergie sind abgeschlossen. Ab dem 15.4. stehen die Zeichen voll auf Ausbau der Erneuerbaren Energien. Natürlich gab es zum befristeten Weiterbetrieb auch Diskussionen in der Partei. Eine solche Entscheidung müssen wir nach innen und außen vermitteln. Da bin ich auch selbst gefordert. Wir diskutieren etwa hier im Kreisverband Bielefeld und OWL wichtige Themen vor Ort und auch in Webinaren. Wir haben da sehr viel Unterstützung und Vertrauen. Das schätze ich ungemein. Die deutsche Außenpolitik setzt sehr stark auf Moral und Werte. Gibt es eine Debatte darüber, ob es richtig ist, Waffen an bestimmte Seiten zu liefern? Die Waffenlieferungen sowie die wirtschaftliche und humanitäre Hilfe für die Ukraine werden absolut getragen von Partei und Fraktion. Sie leiten sich aus dem Selbstverteidigungsrecht der Ukraine ab. Die Debattenkultur in der Partei, etwa in den Bundesarbeitsgemeinschaften oder vor Ort, ist gut. Wichtig ist dabei: Die Frage einer wertegeleiteten Außenpolitik ist kein Gegensatz zu diplomatischen Bemühungen. Es war Deutschlands Verdienst, dass die internationale Staatengemeinschaft in der UNO mit der Verurteilung des russischen Angriffs der Ukraine zusammengeblieben ist. Und diesen Kurs werden wir fortsetzen.

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