Tödliche Raucherpause bei Salzkotten: Freispruch für angeklagten Autofahrer

Salzkotten. Wie konnte es geschehen, dass im vergangenen Jahr ein 53-Jähriger aus Lippstadt den Tod seines Freundes verursachte? Hat sich Carsten M. (alle Namen geändert) der fahrlässigen Tötung schuldig gemacht? So lauten die Kernfragen, die sich die Richter des Schöffengerichts Paderborn stellen - fast auf den Tag genau ein Jahr, nachdem Jonas I. in einer Bielefelder Spezialklinik seinen schweren Kopfverletzungen erlag. Carsten M. steuerte an dem frühen Morgen des 17. September 2022 den Wagen, der den 31-Jährigen erfasste und überrollte. Es ist alles andere als ein normaler Verkehrsunfall, mit dem sich die Richter beschäftigen müssen. Denn Carsten M. und Jonas I. waren gute Freunde, seit sie sich im offenen Vollzug der Bielefelder Justizvollzugsanstalt kennengelernt hatten. Während der Jüngere dort eine Strafe verbüßte, die in seinen Drogenproblemen begründet war, saß Carsten M. wegen Steuerhinterziehung ein - und entwickelte anscheinend ein Gefühl der Verantwortung für Jonas I. "Er wollte ihn von den Drogen wegbringen", sagt M.s Verteidigerin Iris Grohmann. Und so kam der Lippstädter dem 31-Jährigen auch zu Hilfe, als sich dieser an einem frühen Sonntagmorgen von einer Polizeidienststelle meldete. Dort war er nach einem Streit in einer Geseker Lokalität deutlich alkoholisiert gelandet. Wohl zudem durch Kokain berauscht habe Jonas I. in seinem Auto randaliert, so die Erinnerung des Angeklagten, die seine Verteidigerin Revue passieren lässt. Deshalb habe er den Freund am Rand der Franz-Kleine-Straße auch aussteigen lassen, damit dieser sich bei einer Zigarette beruhige. Doch wenige Minuten später ist der 31-Jährige lebensgefährlich verletzt. Angeklagter war an der Unfallstelle sehr aufgeregt und schockiert Im September 2022 berichtete Carsten M. den hinzugerufenen Polizeibeamten und Rettungskräften, dass er es mit der Angst zu tun bekommen habe, als er sah, dass Jonas I. wieder auf der Beifahrerseite einsteigen wollte. Er sei somit einfach losgefahren. Jetzt vor Gericht ist seine Darstellung jedoch eine andere. Hier erzählt er, dass er seinen Freund beim Losfahren gar nicht bemerkt habe. Dass Carsten M. an der Unfallstelle sehr aufgeregt und schockiert gewesen sei, da sind sich alle Zeugen einig. Sie sprechen von "großer Nervosität", von Panik und einem starken "emotionalen Druck", unter dem der Angeklagte gestanden habe. "Er war mächtig aus dem Häuschen", so ein erfahrener Polizeibeamter, der den Unfall als den "ungewöhnlichsten" seiner Dienstzeit beschreibt. Tatsächlich hatte Jonas I. wohl den Griff der Beifahrertür in der Hand, als der Angeklagte den Wagen startete und nach Ansicht des Unfallgutachters "normal bis zügig" anfuhr. Der 31-Jährige stürzte nach einigen Metern, wurde mitgeschleift und geriet mit seinem Brustkorb unter das Hinterrad. Weil Carsten M. sofort einen Notruf absetzte und Retter schnell vor Ort waren, konnte Jonas I. zwar noch mit einem Hubschrauber in eine Bielefelder Spezialklinik geflogen werden. Dort erlag er jedoch am nächsten Tag seinen schweren Kopfverletzungen, die er sich im Verlauf des Unfalls zugezogen hatte. Staatsanwalt spricht von "Schutzbehauptung" "Ich habe ihn nicht gesehen", beteuert Carsten M. erneut, bevor sich die Richter zur Beratung zurückziehen. Dass er das nicht glaubt, hat einige Minuten zuvor Ankläger Kai Uwe Waschkies deutlich zum Ausdruck gebracht. Das sei eine "Schutzbehauptung", sagt der Staatsanwalt und verweist vor allem auf die Schilderungen, die der 53-Jährige vor den Rettungskräften und vor der Polizei selbst abgegeben hatte. Dass Carsten M. einfach losgefahren sei, obschon sein Freund auf Höhe der Beifahrertür stand, sei ein Verstoß gegen die Sorgfaltspflicht gewesen, so Waschkies. Außerdem habe der Angeklagte gewusst, dass der Freund deutlich alkoholisiert war, "dann muss man mit unklugem Handeln rechnen". Eine 18-monatige Bewährungsstrafe fordert der Ankläger, zudem solle Carsten M., der finanziell nicht auf Rosen gebettet ist, 160 Sozialstunden ableisten. Freispruch - "im Zweifel für den Angeklagten" Diesem Antrag folgen die Richter allerdings nicht. Nach fast einstündiger Beratung sprechen sie den Lippstädter frei - gemäß dem Prinzip "In dubio pro reo - im Zweifel für den Angeklagten". Man könne nicht mit der erforderlichen Sicherheit feststellen, dass Carsten M. im Moment des Startens wusste, dass sein Freund an der Beifahrertür stand und den Griff in der Hand hatte, so ihre Bilanz. Möglicherweise sei der 31-Jährige von der sogenannten B-Säule zumindest teilweise verdeckt gewesen. Entscheidend sei allerdings die Spurenlage, die erkennen lasse, dass Carsten M. mit seinem Wagen nach wenigen Metern einen Schlenker nach links machte und eine Bremsung einleitete. Es sei nicht auszuschließen, dass er erst zu diesem Zeitpunkt Jonas I. auf der Beifahrerseite wahrgenommen habe. Vor diesem Hintergrund sei zu relativieren, was der Angeklagte vor Ort in einem sehr aufgeregten Zustand den Zeugen erzählt habe. Zudem wiesen die Richter darauf hin, dass letztlich Jonas I. durch sein Festhalten des Türgriffs selbst erst die Gefahr des Unfalls geschaffen habe. Direkt nach der Urteilsverkündung erhält Carsten M. seinen Führerschein zurück, die Fahrerlaubnis war nach dem Vorfall eingezogen worden. Für diese Zeit soll der 53-Jährige eine Entschädigung aus der Staatskasse erhalten. Für die Eltern von Jonas I. dürfte das Urteil ein schwerer Schlag sein. Sie trauern jeden Tag um den Verlust ihres einzigen Kindes. "Sie können weiterhin Kaffee trinken und frühstücken", sagt die Mutter in die Richtung von Carsten M., "aber unser Sohn liegt im Grab."

Meistgelesen