Paderborner Marienstraßen-Prozess: Haft und Bewährung für jugendliche Angeklagte

Paderborn. Es war ein entsetzlicher Verdacht, unter dem der mittlerweile 19 Jahre alte Amir B. (Namen geändert) und sein Freund Omar E. (16) über 230 Tage lang standen: Sie waren angeblich für den Tod von Lukas L. verantwortlich, dem sie in der Marienstraße im Verlauf der Nacht auf den 1. Mai drei Faustschläge und einen Tritt versetzt hatten. Von gemeinschaftlichem Totschlag war die Rede in der Anklage von Kai Uwe Waschkies. Nach elf Verhandlungstagen vor der 5. Großen Strafkammer des Landgerichts Paderborn ist dieser Vorwurf vom Tisch. Die Richter unter dem Vorsitz von Nicole Klein erkennen auf gefährliche Körperverletzung und verhängen gegen beide Angeklagte eine Jugendstrafe. Anderthalb Stunden benötigt die Vorsitzende Richterin für die Urteilsbegründung, die sie ebenso gründlich gestaltet wie die gesamte Verhandlung. Los geht es mit einem &bdquo;Vorspann “, wie Nicole Klein sagt. Mit eindrücklichen Worten erklärt sie den Zuschauern, dass ein Gericht nur mithilfe von Beweisen und sicheren Feststellungen zu einem Urteil kommen darf. Herkunft, Geschlecht und Tatvorwurf dürften bei einer Entscheidung keine Rolle spielen und ebenso wenig ein &bdquo;Bauchgefühl“. Ein Urteil dürfe &bdquo;kein Gesinnungsurteil“ sein und nicht die &bdquo;Stimmung in einer Gesellschaft aufgreifen“. Paderborner Richterin: &bdquo;Es wurden Dinge verbreitet, die nicht stimmen“ Sie zitiert Medienberichte, in denen Tatabläufe geschildert wurden, die nicht mit den realen Ereignissen in Einklang zu bringen sind. &bdquo;Es wurden Dinge in der Öffentlichkeit verbreitet, die haben von Anfang an nicht gestimmt“, sagt die Vorsitzende - etwa, dass Lukas L. mit einer Flasche auf den Kopf geschlagen wurde, dass er totgetreten wurde. All das sei immer noch im Netz zu finden und auch nicht mehr wegzubekommen. Lesen Sie auch: Tötungsdelikt in Paderborner Marienstraße: Zeugen brechen Lanze für junge Angeklagte Dann kommt sie ausführlich auf diese wenigen verhängnisvollen Augenblicke der letzten Aprilnacht zu sprechen. Richterin Klein lässt Revue passieren, wie es in der Marienstraße wohl zu einem Wortwechsel zwischen Amir B. und Lukas L. gekommen war. Hochgradig alkoholisiert habe der 30-Jährige Kontakt gesucht und dabei auch den 19-Jährigen angesprochen. Der habe genervt reagiert und dem Paderborner drei wuchtige Faustschläge gegen den Kopf versetzt, bevor er davonging. Die Hiebe überstand der gelernte Koch ohne Gegenwehr noch stehend, ging aber zu Boden, als ihn Omar E., der aus ein paar Metern Entfernung herbeilief, mit einem &bdquo;Sprungtritt“ wahrscheinlich in Höhe von Hüfte oder Oberschenkel traf. Das Tatgeschehen sei zu einem Teil von der Kamera eines Barber-Shops aufgezeichnet worden und lasse sich mit den Geständnissen der beiden Angeklagten in Übereinstimmung bringen, so die Vorsitzende Richterin. Ohne das Video wäre niemals der richtige Tatablauf ans Tageslicht gekommen. Sie übt Kritik am Antrag des Staatsanwaltes Kai Uwe Waschkies. Er hatte in seinem Schlussvortrag weiter am Vorwurf des gemeinschaftlichen Totschlags festgehalten und sich dabei auf die Aussage eines einzigen Zeugen gestützt. Festhalten der Staatsanwaltschaft ist für Paderborner Richter &bdquo;nicht nachvollziehbar“ &bdquo;Das ist für die Kammer nicht nachvollziehbar“, sagt Richterin Klein. Denn das, was dieser junge Mann geschildert habe, entspreche nicht den realen Geschehnissen, wie das von der Überwachungskamera aufgezeichnete Bewegungsmuster zeige. &bdquo;Das ist ausgeschlossen.“ Wieso Waschkies ausgerechnet diesem Zeugen Glauben schenke, &bdquo;erschließt sich der Kammer nicht“. Dazu passend: Schlagabtausch im Paderborner Marienstraßen-Prozess: &bdquo;Ein Plädoyer zum Fremdschämen“ Zeugen seien das große Problem in diesem Verfahren gewesen, denn neben einigen &bdquo;redlichen Zeugen“ habe es andere gegeben, die &bdquo;offenbar Fehlwahrnehmungen“ äußerten, wieder andere seien der falschen Berichterstattung in den Medien erlegen. Entscheidend sind für das Gericht hingegen die Expertisen der Rechtsmedizinerin und des Neuropathologen. Denn für den Tod des Lukas L. war allein die Ruptur eines Aneurysmas ursächlich, das sich im Kopf des 30-Jährigen schon vorher gebildet hatte. Dass die Gefäßausstülpung aufgrund der mechanischen Einwirkung durch Schläge platzte, hielten die Gutachter für unwahrscheinlich, sie verwiesen auf entscheidende drei Faktoren: eine Bluthochdruckspitze, die bei Lukas L. möglicherweise aufgrund der erst verbalen, dann körperlichen Auseinandersetzung eintrat, seine hochgradige Alkoholisierung sowie der Mix an Betäubungsmitteln, der in seinem Körper festgestellt worden war. Lange Jugendstrafe für angeklagten 19-Jährigen Somit finden die Richter für beide Angeklagte jeweils zu einem Schuldspruch für gefährliche Körperverletzung. Gegen Amir B. verhängen sie eine 34-monatige Jugendstrafe. Der 19-Jährige hätte erkennen müssen, dass Lukas L. aufgrund seiner schweren Alkoholisierung in seinem Reaktionsvermögen stark eingeschränkt war und bei einem Sturz auf den Asphalt beträchtlich verletzt werden könnte. &bdquo;Er hat massiv mit drei Schlägen auf die Kopfregion eingewirkt“, sagt Richterin Klein. Einen Grund habe er letztlich nicht gehabt. &bdquo;Er war genervt, aber er hätte einfach weggehen können.“ Anders als Staatsanwalt Waschkies sehen die Richter bei Amir B. noch beträchtlichen Erziehungsbedarf. Der 19-Jährige, der über keinen &bdquo;sozialen Empfangsraum“ verfügt, muss in der Jugendhaftanstalt Herford bleiben. Warum ein Angeklagter zu Bewährung verurteilt wird Anders Omar E. Ihn verurteilen die Richter zu einer neunmonatigen Jugendstrafe, die sie zur Bewährung aussetzen. Im Gegensatz zu seinem Freund habe er wohl nicht gewusst, dass Lukas L. stark angeschlagen war, als er zum Sprungtritt ansetzte. Doch vor allem habe sich der &bdquo;intelligente, wissbegierige junge Mann“ bereits mit der Tat intensiv auseinandergesetzt, er habe den Bruder von Lukas L. um Verzeihung gebeten und sich in psychologische Behandlung begeben. &bdquo;Man sieht seine Qual“, sagt die Vorsitzende Richterin. Omar E. muss einen sozialen Trainingskursus besuchen als weitere Unterstützung bei der Aufarbeitung seiner Tat. Zusammen mit seinem Vormund darf er den Gerichtssaal verlassen und muss nicht ins Gefängnis zurückkehren. Update (24. Dezember): Staatsanwaltschaft Paderborn legt Revision ein Zum Schluss kommt Nicole Klein nochmals auf das Video zu sprechen. Es sei von Beginn an Teil der Ermittlungsakten gewesen. Dass Ankläger Waschkies trotzdem in seiner Anklage den dringenden Tatvorwurf &bdquo;gemeinschaftlicher Totschlag“ formulierte, &bdquo;war juristisch falsch“, sagt sie. Lesen Sie auch unseren Kommentar: Urteil im Paderborner Marienstraßen-Prozess: Die Rechtsprechung funktioniert

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