"Teufelskreis": Paderbornerin erzählt von ihrem Weg in die Obdachlosigkeit

Paderborn. Julia L. lebt seit vier Wochen in ihrem Auto. Sie erzählt, dass sie an Feldwegen parkt, außerhalb von Ortschaften. Männer würden nachts an die Scheiben klopfen und fragen, wieso sie dort parkt. Das macht ihr Angst. Die 45-jährige Paderbornerin ist hoch verschuldet und musste nach einer Räumungsklage und Zwangsvollstreckung ihre Zwei-Zimmer-Wohnung verlassen. Von ihrer Situation wissen nur eine Handvoll Personen, sagt sie. Daher will sie ihren Namen nicht in der Zeitung lesen, dieser Redaktion ist er jedoch bekannt. Julia L. war selbstständig. Die Branche will sie nicht nennen, um ihre Anonymität nicht zu riskieren. Sie will nicht von Bekannten und Freunden erkannt werden. "Ich hätte niemals gedacht, dass ich eines Tages obdachlos bin", sagt sie im Gespräch mit der "Neuen Westfälischen". Morgens schaut sie auf ihrem Smartphone mit zersplittertem Display nach, welches Freibad den geringsten Eintritt verlangt, um dort duschen zu können. Sie habe keine Suchtprobleme, sagt sie, doch leide unter Depressionen. Julia L. berichtet, dass sie sich in einem Teufelskreis befinde, der ihr keine Perspektive biete. Kein Job, keine Sozialhilfe, keine Wohnung. Mehr als 100.000 Euro Schulden Am Anfang ihrer finanziellen Schieflage steht die Corona-Pandemie, sagt sie. Sie habe keine Kunden mehr auf Vorträgen akquirieren können. Vor der Pandemie habe sie sehr gut verdient, dann seien die Einnahmen jedoch massiv eingebrochen. Sie habe sich von Freunden das Geld für ihre Mietwohnung leihen müssen. Die Miete kam nicht immer pünktlich, woraufhin ihr die Wohnung gekündigt wurde. Schließlich konnte die Miete gar nicht nicht mehr aufgebracht werden. Sie erhielt eine Räumungsklage, die Zwangsvollstreckung fand Anfang Juni statt. Vor einer Übernachtung in einer gemischten Obdachlosenunterkunft mit Männern hat sie Angst. Daher lebt sie in ihrem Auto. Ihre Schulden hätten sich mittlerweile auf insgesamt mehr als 100.000 Euro aufgetürmt, sagt sie. Die Solidarität von Freunden sei durch die Verschuldung ausgereizt, sie komme auch privat nicht unter. Mit dem Verkauf ihrer Kleidung halte sie sich derzeit über Wasser. Nun drängt die Zeit. Denn bis zum Monatsende soll sie gegen eine Zahlung ihre Möbel auslösen. "Ich weiß aber weder, wie ich das bezahlen soll, noch weiß ich, wo ich alle Möbel inklusive meiner Küche lagern soll", sagt Julia L. Julia L. erhält Unterstützung "Elke Süsselbeck ist die Erste, die sich für meine dramatische Lage wirklich interessiert." Julia L. ist mittlerweile Mandantin bei der Rechtsanwältin, die für die Linksfraktion im Stadtrat sitzt. Der Fall von Julia L. zeige, in welch schwierige Situation wohnungslose Frauen in Paderborn geraten könnten, meint Süsselbeck. Den Leistungsantrag beim Jobcenter zu stellen, um Bürgergeld zu erhalten, sei bereits eine Hürde gewesen. Denn bei der Antragsprüfung wird unter anderem die Einkommens- und Vermögenssituation betrachtet. "Aber was macht man, wenn man keinen Steuerbescheid hat?", fragt Süsselbeck. "Da kann sie nur Eigenangaben machen." Ein weiteres Problem sei ganz praktischer Natur: Julia L. besitzt keine zustellungsfähige Anschrift, an die ein Leistungsbescheid gesendet werden könnte. In diesem Punkt gibt es jedoch seit Anfang Juli eine Gesetzesänderung. Bürgergeld-Bezieher müssen seitdem nicht mehr selbst postalisch erreichbar sein. Die Post könne auch an Dritte verschickt werden, die diese weiterleiten, teilt das Paderborner Jobcenter mit. Viele Nachfragen, aber nur wenig Wohnungsangebote Dem Jobcenter sei es ein Anliegen, "wohnungslose oder von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen in Kontakt mit unseren Netzwerkpartnern zu bringen", sagt Sprecherin Vera Kuhlenkamp. Sie verweist dabei auf das Projekt "Endlich ein Zuhause". Aufgabe des vom Land NRW geförderten Projekts ist es, geeigneten Wohnraum zu finden und an wohnungslose Personen zu vermitteln. Dafür arbeiten im Kreis Paderborn der SKM Paderborn, die Perthes-Stiftung und KIM Soziale Arbeit zusammen. "Es haben sich viele Menschen gemeldet, die eine Wohnung und Unterstützung suchen", sagt KIM-Geschäftsführerin Nicole Wiggers. Etwa Menschen mit einer Räumungsklage wie Julia L. oder alleinerziehende Mütter mit großen finanziellen Problemen. "Die kann man nicht auf der Straße stehen lassen", betont Wiggers. Vermieter zu finden, sei für ihre Kolleginnen und Kollegen jedoch ein mühsamer Prozess. Die Immobilieneigentümer hätten durchaus Vorbehalte, da die potenziellen Mieter oft nicht berufstätig seien sowie psychische Probleme und kein Einkommen hätten, sagt die KIM-Geschäftsführerin. "Wir wünschen uns, dass die Vermieter mit uns ins Gespräch kommen." Denn dann könnten die Projektpartner deutlich machen, dass sich "Endlich ein Zuhause" als Unterstützung für beide Seiten verstehe und den Vermietern finanzielle Sicherheit garantiere. "Der Staat ist kein säumiger Mieter", so Wiggers. Zwar könnten Menschen wie Julia L. Glück haben, etwa weil in den Semesterferien Studierenden-Wohnungen frei werden, doch grundsätzlich sei die Wohnungssituation in Paderborn angespannt. Auch bei einer KIM-eigenen Wohngemeinschaft für Frauen, für die Julia L. angefragt hatte, sind alle Plätze belegt. Angebot, die Mietschulden zu begleichen Julia L. und Elke Süsselbeck setzen daher jetzt auf die Stadt Paderborn und den Stärkungspakt NRW. Dieser hält für Paderborn 925.000 Euro zur Bekämpfung von Armut bereit. Nachdem sich Süsselbeck an das Sozialamt gewandt hatte, unterbreitete das Amt dem ehemaligen Vermieter von Julia L. einen Vorschlag: Wenn er bereit wäre, das Mietverhältnis fortzusetzen, würden die Mietschulden beglichen. Der Vermieter will jedoch Julia L. nicht weiter als Mieterin haben. Daher könnten auch keine Leistungen aus dem Stärkungspakt gewährt werden, teilt die Stadtverwaltung auf Anfrage mit. Süsselbeck will nun für ihre Mandantin weitere juristische Wege versuchen, kündigt sie an. Über ein Wohnungszuweisungsverfahren will sie die Stadt Paderborn dazu bringen, dass diese den Vermieter zwingt, Julia L. wieder die Wohnung anzubieten.

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