Paderborner Dom-Eremitin: „Indem wir Obdachlose ansehen, geben wir ihnen ein Ansehen“

Frau Beckers, Sie haben in Paderborn eine Aufgabe, die es wohl nur einmal gibt. Was macht eine Dom-Eremitin? Elisabeth Beckers: Als Eremitin fühle ich mich von Gott berufen. Es ist somit keine Aufgabe, sondern ein Dienst: Dienen möchte ich Gott, deshalb vertraue ich auf seine Führung. Wenn Sie nach meiner Aufgabe fragen, würde ich dies in meiner Berufung als praktizierende Seelsorgerin definieren. Seelsorgerin bin ich für all die Menschen, die an meine Tür klopfen. Ich bete für sie oder auch mit ihnen, wenn gewünscht. Aus dem kontemplativen Gebet im Alltag schöpfe ich die Kraft für mein Wirken hier am Dom. Den zweiten Schwerpunkt meines seelsorgerischen Schaffens sehe ich im Umgang mit den Menschen am Rande der Gesellschaft. Auch ihnen steht meine Tür offen. Unter eremitisch wird oft verstanden, dass jemand alleine und zurückgezogen lebt. Aber Sie wohnen mitten in Paderborn, das Nachbarhaus ist sozusagen der Turm vom Dom. Das eremitische Dasein ist eine innere Haltung. Es ist das Wahrnehmen von Gottes Geist in mir. Außen kann es noch so unruhig sein, die innere Stille ist die Quelle des eremitischen Daseins. Deswegen habe ich weder Radio noch Fernsehen, gehe selten ins Internet, eigentlich nur, um Mails zu checken. Ich lebe mit Freude in der Welt. Eine lebendige Kirche lebt aus den Beziehungen untereinander. Wer klopft oder klingelt bei Ihnen? Ich bin ehrenamtliche Streetworkerin. Die meisten auf der Straße kennen mich und klar, sie kommen auch zum Betteln um Geld, aber sie wollen auch gesehen werden. Indem wir sie ansehen, geben wir ihnen ein Ansehen, zum Beispiel wenn sie in meiner Küche einen Kaffee oder ein warmes Essen zwischendurch bekommen. Das ist etwas, was manche einfach brauchen. Sie erzählen von ihren dringendsten Nöten, da geht es dann auch um Drogensucht. Wenn sie nach Geld fragen, dann konfrontiere ich sie damit und frage, wofür sie es brauchen. Aber ich kann sie gleichzeitig in den Arm nehmen und sagen Ich hab dich lieb. Mehr bedarf es nicht. Abends kommen sie auch mal vorbei, um sich einen Schlafsack, eine Isomatte oder eine Wolldecke auszuleihen. Übernachten, auch wenn das durchaus mal nachgefragt wird, lasse ich sie bei mir aber nicht. Sie hatten in den vergangenen Jahren auch Kontakt mit dem wohnungslosen Silvio gehabt. Tagein, tagaus hatte er am Paradiesportal des Doms gesessen. Vor wenigen Wochen ist er gestorben. Was war das Besondere an ihm? Er hat 10 bis 15 Jahre immer am gleichen Platz gesessen. Niemals woanders, immer da und oft über Stunden. Und dadurch war er den Menschen vertraut. Zu seiner Beerdigung sind mehr als 100 Menschen aus allen sozialen Schichten gekommen. Silvio hat der Szene ein Gesicht gegeben. Ich bin von vielen Menschen nach der Trauerfeier angesprochen worden, die nicht wussten, dass diese Menschen so eine Not haben. Man hat das Gefühl, dass es vonseiten der Menschen, die durch die Innenstadt gehen, viele Berührungsängste gibt. Ja, die meisten haben Berührungsängste. Einige aus der Szene, die in der Westernstraße sitzen, nehmen Kontakt zu ihnen auf. Ich denke gerade an Nicki, die einen Stoffhund hat, und jedes Mal, wenn sie einen Euro in ihren Becher kriegt, drückt sie einen Knopf und dann macht der Hund Danke. Sie hat eine Möglichkeit gefunden, auch in Beziehung zu treten. Die meisten sitzen jedoch ineinander gekauert und werden übersehen. In Paderborn gibt es Orte, an denen sich die Szene der Alkohol- und Drogenabhängigen sowie der Obdachlosen vermehrt aufhält. Früher war dies die alte ZOH, dann der Platz an der Herz-Jesu-Kirche, wo sich unter anderem Geschäftstreibende beschwerten. Derzeit sorgt die Situation an der Westernmauer für Unruhe bei Anwohnern. Wie blicken Sie auf diese Situation? Ich sehe die Stadt in der Pflicht, einen Platz für die Szene zu schaffen, wo nicht Geschäfte, Anwohner und Schulkinder im direkten Umfeld belästigt werden. Das ist ein großes Anliegen, nicht nur von mir aus. Mit Frau Wiggers (Anm. d. Red.: Nicole Wiggers, Geschäftsführerin KIM – Soziale Arbeit) war ich deswegen schon beim Bürgermeister. Die Stadt sagt, sie hätte keine freien Grundstücke und verweist auf die Kirche. Aber ich denke zum Beispiel an den Parkplatz an der Florianstraße. Das muss auch gar keine große Fläche sein. Einerseits möchten die Szene-Angehörigen durchaus unter den Menschen sein, etwas am Stadtleben teilnehmen. Andererseits wäre ein solch vorgeschlagener Platz etwas abseits. Widerspricht sich das nicht? Das soll kein ummauerter, abgeschiedener Platz sein, irgendwo am Rande der Stadt. Er soll mittendrin eingerichtet sein, trotzdem gekennzeichnet, vielleicht mit einem offenen Sichtzaun. Da müssen eine Toilette, Abfalleimer und irgendein Dach über dem Kopf oder im Sommer ein Sonnensegel sein, wo sie Schutz finden. Da werden sie auch gesehen, aber eben toleriert. Das wäre ein Treffpunkt, wo sie miteinander sprechen, aber auch Bier trinken, rauchen und Drogen konsumieren. Sie beschönigen die Situation nicht. Wir als Stadtgesellschaft wollen das alles nicht wahrhaben. Aber es gibt nun mal die Szene in Paderborn – wie in jeder Stadt. Und wir haben hier auch die Dealer, wir haben hier die Abhängigen, das ist nun mal Fakt. Und da können wir die Augen nicht vor verschließen. Sie brauchen ihre Räume. Wenn wir sie von einer Ecke zur anderen schieben, entsteht da nur noch mehr Unruhe. Ein explizit ausgewiesener Ort würde angenommen werden? Das wäre ein Experiment. Aber ich könnte mir vorstellen, dass ein solcher Raum angenommen wird, weil sie dann das Gefühl haben: Hier dürfen wir sein. Auch wenn das Ordnungsamt sicherlich auf solch einen Ort schauen würde. Mehr zum Thema der Paderborner Trinker- und Drogenszene: Vorbereitung für Rolltore an der Westernmauer läuft Wie schätzen Sie die Übernachtungssituation für Obdachlose in Paderborn ein? Die Plätze der beiden Notunterkünfte in der Stadt reichen nicht aus, eine weitere wird beim SKM an der Kapellenstraße entstehen. Ansonsten schlafen die Obdachlosen etwa in Wohneingängen und in Bankfilialen, wenn sie nachts geöffnet sind. Und ich kenne jemanden, der den ganzen Sommer im Paderquellgebiet gelebt und eine Parkbank sozusagen gemietet hatte. Er war da Tag und Nacht und ist zwischendurch zur Padermahlzeit zum Essen gekommen. Mehr zum Thema: Mehr als 1.000 Menschen im Kreis Paderborn wohnungslos Welche zusätzlichen Angebote braucht es Ihrer Meinung nach für Wohnungs- und Obdachlose in Paderborn? Silvio, der eine Krebserkrankung hatte, hat alle und mich besonders mit der Nase drauf gestupst, dass eine Einrichtung fehlt, wenn sie schwer krank und pflegebedürftig werden. Dann sind sie unversorgt. Das heißt, sie sind tagsüber auf der Straße. Sie brauchen eine Rundumversorgung. Wenn man ein Haus hätte, wo diese Leute untergebracht werden, wo sie unter sich, in ihrer sozialen Familie sind, wäre das gut. Das wäre auch eine Einrichtung für ältere drogenabhängige Menschen. So ein Projekt würde von den bestehenden Einrichtungen auf jeden Fall unterstützt. Zum Glück gibt es bereits eine ehrenamtliche ärztliche Notversorgung im SKM und im KIM B2. Im Moment, so habe ich gehört, geht die Krätze ganz schlimm um. Wie fortgeschritten sind die Überlegungen für die genannte Einrichtung? Von KIM ist ein solches Konzept schon angedacht. Da wird gerade ein Haus gesucht, das muss gar nicht so groß sein. Im Moment hapert es an der Immobilie. Deswegen bin ich mit dem Bistum in Kontakt getreten, da ja absehbar Kirchen und Pfarrhäuser geschlossen werden. An Ihrem Klingelschild steht &bdquo;Das Leben ist schön!“ Können Sie das voller Überzeugung sagen angesichts der Not, die Sie tagtäglich mitbekommen? Ja. Stellen Sie in einen dunklen Raum ein Licht und er erhellt sich. Und wenn es nur etwas Kleines ist, und nur für eine Minute, es gibt jeden Tag irgendetwas Schönes: die heiße Suppe, den Kaffee, die Umarmung. Ich selbst habe in ganz, ganz vielen Situationen erfahren, dass Menschen da waren, die mir eine Hand gereicht haben, die mir eine Umarmung geschenkt haben, die mir Mut gemacht haben.

Meistgelesen