Nazi-Verbrechen: Das trieb der „Landeskrüppelarzt“ im heutigen Stemwede

Stemwede-Wehdem. Ende Januar 1933 hatten sie ihr Ziel erreicht: Die Nazis hatten die Weimarer Republik zerstört. Was von den Hitler-Faschisten als &bdquo;Machtergreifung“ gefeiert wurde, war in Wirklichkeit eine &bdquo;Machterschleichung“, denn die Nazis hatten sich Teilweise der Instrumente des demokratischen Staates bedient. Recht früh fiel das Nazi-Gedankengut auch im damaligen Landkreis Lübbecke auf fruchtbaren Boden. Wie schnell auch im heutigen Stemwede aus Nachbarn Täter wurden oder auch Opfer, das zeigt eine Ausstellung in der Wehdemer Begegnungsstätte. &bdquo;Einige waren Nachbarn. . .“ ist eine Ausstellung des United States Holocaust Memorial Museums, die von der Stemweder Heimatpflege mit einer lokalen Ausstellung ergänzt wird. Wie wird eine Ausstellung zu einem Thema angenommen, das auch im Lübbecker Land lange totgeschwiegen wurde? Wie sieht die Resonanz auf eine solche Ausstellung aus in Zeiten, in denen teils rechtsextreme Parteien starken Zulauf haben? Dazu äußert sich der Stemweder Gemeindeheimatpfleger Tobias Seeger. Bis zum 10. November ist die Ausstellung mittwochs, donnerstags, samstags und sonntags von 14 bis 18 Uhr in der Begegnungsstätte in Wehdem zu sehen. Viele ehrenamtliche Kräfte hatten sich im Vorfeld für den lokalen Teil der Ausstellung engagiert und mit Hilfe des Stadtarchivs Lübbecke geforscht. &bdquo;Ohne die Ehrenamtlichen wäre das nicht möglich gewesen“, sagt Tobias Seeger. Das Gift des Nationalsozialmus wirkte auch im Dorf Rund 600 Menschen haben seit der Eröffnung diese besondere Ausstellung besucht. Schulklassen zählten dazu, aber auch Großeltern mit ihren Enkeln, ganze Familien oder Vereine aus Stemwede und umzu. Jung und Alt seien zu Gast, hat Seeger beobachtet. &bdquo;Das ist schon sehr erfolgreich, die Zugriffszahlen steigen“, merkt der Heimatpfleger an. Sehr anschaulich vermittelt die Ausstellung, wie das Gift des Nationalsozialismus nicht nur in den großen Städten des damaligen Deutschen Reiches wirkte, sondern auch vor Ort in den Dörfern in der heutigen Gemeinde Stemwede. Rahdener durfte den "Tag von Potsdam" malen Am 30. Januar 1933 wurde der letzte Nagel in den Sarg für die erste deutsche Demokratie eingeschlagen. An jenem Tag wurde Nazi-Führer Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt. Im März 1933 inszenierten die Nazis den so genannten &bdquo;Tag von Potsdam“, einen Staatsakt zur Eröffnung des am 5. März 1933 gewählten Reichstages. Gefeiert wurde das als &bdquo;Versöhnung des Alten mit dem neuen Deutschland“. Ein einziger Maler durfte den Handschlag zwischen Adolf Hitler und dem greisen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg malen: der aus Rahden stammende Kunstmaler Carl Langhorst, dem später die Rahdener Ehrenbürgerwürde verliehen wurde. Hitler wurde schnell Ehrenbürger So wie Carl Langhorst ein überzeugter Nationalsozialist war, so waren auch die Mitglieder der Gemeindevertretung Drohne überzeugte Nazis: Schon im Frühjahr 1933 verlieh die damals selbstständige Gemeinde Drohne Adolf Hitler die Ehrenbürgerwürde. Überschwänglich priesen die damaligen Gemeindevertreter den Reichskanzler als der &bdquo;Herold des neuen Deutschlands“. Wenige Wochen später gab es Post aus Berlin: Hitler nahm die Ehrenbürgerwürde an. Daran wird in der Ausstellung auch erinnert. Zudem gibt es Hinweise, wo sich was ereignete in den Orten im heutigen Stemwede. Sei es die Ehrenbürgerwürde für Hitler in Drohne, das Kriegsgefangenenlager Nr. 401 in Arrenkamp, HJ-Lager in Oppenwehe oder Levern oder die berüchtigte Gebietsführerschule &bdquo;Langemarck“ für die Hitler-Jugend im damaligen Nazi-Gau Westfalen im Schloss Haldem. Sterilisation unter Zwang nur wegen Taubheit Die Nazi-Ideologie reichte in jedes Dorf, sie durchdrang das öffentliche Leben und sie drang bis in das Innerste des Privatlebens vor. Das wird in der Ausstellung deutlich. Da ist die 14-Jährige, die ihre Nachbarn denunziert, weil die eine schwarz-weiß-rote Reichfahne zeigen statt der Hakenkreuzfahne. Es geht aber auch um die Zwangs-Sterilisation. Da ist die Ankündigung in den gleichgeschalteten Zeitungen, die auf den Besuch des &bdquo;Landeskrüppelarztes für die Provinz Westfalen“ hinweise, der im Lübbecker Land in damals wie heute bekannten und teils nach wie vor existierenden Gaststätten kostenlose Untersuchungen anbot. &bdquo;Da sind die Leute selbst hingegangen oder sie haben Verwandte untersuchen lassen“, sagt Tobias Seeger. Zeitgleich waren die Lehrer angehalten, den Amtsverwaltungen die Kinder zu melden, die aus ihrer Sicht für eine Sterilisation in Frage kommen. Die Ämter waren fester Teil der Verfolgungs- und Tötungsmaschinerie der Nazis. "Minna aus Haldem war schwachsinnig" Aus dem damaligen Amt Dielingen-Wehdem ist die entsprechende Akte erhalten. Amtsbürgermeister Heinrich Zell machte laut einem Dokument sogar Nachmeldungen für Kinder, die von den Nazis unfruchtbar gemacht wurden. &bdquo;Minna aus Wehdem“ etwa, weil sie taubstumm war. &bdquo;Fritz aus Oppenwehe“ wurde der Taubheit zum Verhängnis, &bdquo;Minna aus Haldem“ wurde als &bdquo;schwachsinnig und verkrüppelt“ dargestellt. Die Sprache der NS-Verbrecher spricht auch in einem Nachtrag Zells: Demnach solle &bdquo;Wilhelm aus Westrup“ unfruchtbar gemacht werden, weil er laut Nazi-Bürgermeister Zell &bdquo;geistig minderwertig“ sei. Leverner Rathaus-Chef blieb sogar bis 1959 im Amt Die Meldungen gingen an das Gesundheitsamt des Kreises Lübbecke, das dem fanatischen Nazi-Landrat Kurt von Borries unterstand. Der Aufforderung, zur Sterilisation nach Herford zu reisen, mussten die Betroffenen nachkommen. Und als wäre das nicht perfide und abwartig genug: Sie mussten alles selbst bezahlen. Die Akte aus Levern ist nach Angaben Seegers nicht erhalten. Amtsbürgermeister Karl Kuhlo habe wohl gründlicher aufgeräumt als Heinrich Zell. Kuhlo schadete seine Aktivität in der Nazi-Zeit übrigens nicht. Er blieb bis 1959 in verantwortlicher Funktion im Amt Levern. So wie auch die fanatischen Nazis, Kreisleiter Ernst Meiring und Landrat Kurt von Borries, nie einen Tag hinter Gittern für ihre Untaten büßen mussten. Angeblich sollte ihnen laut Entscheid der Spruchkammer in Bielefeld kein verbrechen gegen die Menschlichkeit nachweisbar sein. Geachtet lebte auch Karl Höcker nach dem Krieg im Lübbecker Land – wenngleich der aus Pr. Oldendorf stammende Adjutant von Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß wegen seiner Beteiligung am Holocaust zu Haftstrafen verurteilt wurde. Lübbecker Altenheim lehnte Aufnahme von Jüdin ab Erinnert wird an Mitbürger jüdischen Glaubens, die dann zwangsweise die Namen &bdquo;Sara“ oder &bdquo;Israel“ zugewiesen bekamen. Aus den eben noch geachteten Mitbürgern machten die Nazis Aussätzige und kriminalisierten sie als Volksfeinde – und gegen deren Deportation und Ermordung regte sich auch im heutigen Stemwede kein Widerstand. Erinnert wird an Menschen aus dem damaligen Amt Dielingen-Wehdem, die in den Konzentrationslagern ermordet wurden. Wie die 1887 geborene Henriette Weidenbaum aus dem Amt-Dielingen-Wehdem. Wegen einer Herzmuskelschwäche kam sie 1937 ins Krankenhaus. Sie wohnte zuvor bei einem nichtjüdischen Paar als Mieterin – zu großzügig, wie ein Arzt befand. Die Suche nach einem Platz im Pflegeheim war schwierig, das evangelische Altenheim Lübbecke lehnte eine Aufnahme Weidenbaums mit Rücksicht auf die NSDAP ab. Henriette Weidenbaum kam schließlich in ein jüdisches Altenheim nach Unna. Sie wurde später ins KZ Theresienstadt deportiert und umgebracht. Im KZ wurde auch das Ehepaar Coblenzer aus Dielingen getötet. Ausschreitungen auch in Wehdem In Wehdem demolierten Dorfbewohner zusammen mit Rahdener SA-Leuten in der Pogromnacht des 9. November 1938 Häuser von Bürgern jüdischen Glaubens. Eines wurde niedergebrannt. Bewohner wurden gezwungen, das Dorf zu verlasen. Von der einst blühenden jüdischen Gemeinde in Levern, denen Bürger aus den Ämtern Levern und Dielingen-Wehdem angehörten, blieben nach dem Holocaust nur Erinnerungen. Das mehrfach umgebaute Gebäude der Leverner Synagoge existiert noch. Letzte noch vorhandene Einrichtung der Gemeinde ist der Friedhof an der L 770. &bdquo;Es wird persönlich. Sie sprechen über ihre Familien“ Fanatische Nazis als Nachbarn, aber auch Nachbarn als Opfer: Wie reagieren die Menschen auf das, was sie in der Ausstellung sehen? &bdquo;Die Ausstellung ist ein Eisbrecher“, sagt Tobias Seeger. Menschen möchten nach seiner Erfahrung nach über das Thema sprechen, was auch im heutigen Stemwede in der Nazi-Zeit passiert sei. &bdquo;Und es wird auch persönlich, sie sprechen über ihre Familien.“ Warum Hinweise auf NS-Terror wichtig sind Die Gäste der Ausstellung würden Informationen lesen und sich mit anderen Gästen darüber austauschen, merkt Tobias Seeger an. &bdquo;Das sind ganz wichtige Prozesse, die da in Gang gesetzt werden.“ Nach Jahrzehnten des Schweigens gibt es Redebedarf. Und es sei angesichts der jüngsten Ergebnisse von Wahlen oder Umfragen wichtig, auf diesen Teil der Geschichte hinzuweisen, betonen Seeger und die anderen ehrenamtlich Aktiven. Gerade im lokalen Teil der Ausstellung sei zu sehen, wie der Nationalsozialismus auf dem Dorf abgelaufen sei. Die strukturelle Unterdrückung, die bis ins Privatleben dränge, sei vielen Menschen heute nicht bekannt. Die Arbeit der karitativen Vereine, der Landfrauen – alles sei dem Nationalsozialismus untergeordnet worden. Seeger: &bdquo;Die Partei sorgte schon dafür, dass das klappte.“ All das stelle die lokale Ausstellung sehr gut dar. &bdquo;Alle Bereiche waren von der NS-Ideologie durchdrungen.“ Seeger: &bdquo;Nach dem Besuch der Ausstellung kann niemand mehr sagen: Die haben von nichts gewusst.“

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