Kriegsende im Lübbecker Land: Lebensläufe mit teils verdrängten Episoden

Lübbecker Land. Über Jahrzehnte war die Zeit des Nazi-Terrors auch im Lübbecker Land für viele Menschen kein Thema. Man sprach nicht darüber. Man wollte nicht darüber sprechen. Eigentlich, so sahen sich viele, seien sie doch keine Nazis gewesen. Eher Widerständler. Wer manchen Menschen in den vergangenen Jahrzehnten zuhörte, der konnte denken, dass der damalige Landkreis Lübbecke ein Hort des Widerstands gegen das Nazi-Regime war. Das aber ist weitestgehend Unsinn. Vielen Menschen auch im damaligen Landkreis Lübbecke diente nach dem 8. Mai 1945 NS-Rüstungsminister Albert Speer als Beispiel und – zweifelhaftes – Vorbild. Speer präsentierte sich vor dem Nürnberger Kriegsverbrecherprozess als der &bdquo;gute Nazi“, der von Zwangsarbeit nichts gewusst haben und den Menschen in der Rüstungsindustrie durch eine Erhöhung der Lebensmittel-Rationen geholfen haben will. &bdquo;Wenn der Speer nichts wusste, wie sollte ich dann etwas wissen?“ Das mag vielen Menschen durch den Kopf gegangen sein, die über das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte nicht sprechen wollten. &bdquo;Ehrloser Deutscher“ wegen eines Handschlags Vereinzelt gab es Widerstand. Vereinzelt gab es Menschen, die etwa Mitbürgern jüdischen Glaubens nach wie vor mit Achtung und Respekt begegneten. Zu denen gehörte Friedrich Hägemeister aus Lashorst, heute ein Teil der Stadt Preußisch Oldendorf. 1914 geboren und als Halbwaise aufgewachsen, hatte er auch nach 1933 Kontakt zu den früheren jüdischen Viehhändlern in Rahden. Einen Handschlag Hägemeisters mit ihnen bekamen die Nazis mit – und so wurde er zum &bdquo;ehrlosen Deutschen“ und 1939 sofort in den Krieg geschickt. Nach der Rückkehr 1945 und gesundheitlich gezeichnet, wurde Friedrich Hägemeister von den Briten in seinem Ort als Bürgermeister eingesetzt. Später engagierte er sich im Kreistag Lübbecke und im Rat Stemwede für ein demokratisches Gemeinwesen. Andere waren skrupellos und ihre Mithilfe bei NS-Verbrechen tat ihrer Karriere nach dem 8. Mai 1945 keinen Abbruch. Die Amtsdirektoren in Dielingen-Wehdem und in Levern unterstützen das Euthanasie-Programm der Nazis, bei dem auch beeinträchtigte Menschen zwangssterilisiert wurden. Die Kosten dafür mussten die Familien tragen. Die Unterlagen dazu aus der früheren Amtsverwaltung Dielingen-Wehdem waren bei Kriegsende offenbar nicht vollständig vernichtet worden – anders als in Levern. Der Leverner Amtsdirektor Kuhlo blieb trotz seiner Machenschaften in der Nazi-Zeit bis 1958 im Amt. Preußisch Oldendorfer fotografierte im KZ Auschwitz Der gebürtige Engershausener Karl-Friedrich Höcker war seit Mai 1944 Adjutant des Kommandanten des KZ Auschwitz. Höcker wurde bekannt wegen eines für NS-Funktionäre gefertigten Fotoalbums, von denen sich eines erhalten hat und mittlerweile als Buch aufgearbeitet ist. Auf einem der Fotos von Höcker wird die Anwesenheit des berüchtigten SS-Arztes Josef Mengele in Auschwitz dokumentiert. Mengele nahm unter anderem grauenhafte Experimente an Häftlingen vor. Nach dem Krieg arbeitete Höcker bei einem heimischen Kreditinstitut, lange unbehelligt von der Justiz. Erst im Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963 bis 1965) saß Höcker mit rund 20 weiteren Beschuldigten auf der Anklagebank. Höcker beteuerte seine Unschuld, wurde trotzdem wegen Beihilfe zum Mord zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt und 1970 aus der Haft entlassen. Ende der 1980er-Jahre wurde er wegen seiner Tätigkeiten im KZ Majdanek zu vier Jahren Haft verurteilt. Die Frankfurter Auschwitz-Prozesse wären nach Überzeugung von Historikern ohne das beharrliche Engagement des Staatsanwaltes Fritz Bauer kaum geführt worden. Bauer stammte aus einer liberalen jüdischen Familie, war später Generalstaatsanwalt und wurde wegen seiner Ermittlungen von vielen Juristen angefeindet, die bereits vor 1945 im Justizdienst tätig waren. Anschaulich macht das unter anderem der 2015 entstandene deutsche Spielfilm &bdquo;Der Staat gegen Fritz Bauer“. Unternehmer mit NS-Vergangenheit Eine andere Person mit NS-Vergangenheit war der Unternehmer Jürgen Ulderup. Ulderup war Gründer der Lemförder Metallwaren, aus denen die heimischen Standorte des Automobil-Zulieferers ZF Friedrichshafen AG hervorgingen. Die Ulderup-Stiftung ist eine der bedeutenden niedersächsischen Stiftungen und vielfältig engagiert. In der Villa Ulderup am Südhang des Stemweder Berges in Haldem gingen zeitweise die Größen der Automobil-Industrie ein und aus. Nach dem Unternehmer-Ehepaar Jürgen und Irmgard Ulderup ist auch die Grundschule Haldem benannt. Nicht gesprochen wurde in Stemwede über die Vita des Jürgen Ulderup vor dem 8. Mai 1945. Und bis Kriegsende war Ulderup mit dem Nationalsozialismus durchaus verbandelt. Die Stemweder Grünen forderten daher, die Namensgebung der Grundschule Haldem zu ändern. Ohne Erfolg. Ulderup war Mitglied der NSDAP und der Reiter-SS. Er war aber auch in der Rüstungsindustrie aktiv. Ulderup war für die Junkers-Werke in Dessau tätig und auch in den Zitt-Werken im damaligen Zittauer Stadtteil Kleinschönau. In dem auf dem Ostufer der Lausitzer Neiße liegenden heutigen polnischen Ort Sieniawca gründeten die Junkers-Werke einen Standort, um hier Flugzeugmotoren unter anderem für die JU87 (Stuka) und die JU88 zu bauen. Jürgen Ulderup war in den Zitt-Werken als sogenannter Betriebsführer tätig. Das entspricht dem Geschäftsführer. Eingesetzt wurden hier auch Häftlinge aus dem Konzentrationslager Groß-Rosen. Daran erinnern vor dem einstigen Verwaltungsgebäude des als Kaserne gebauten Komplexes heute Gedenktafeln. High-Tech für die deutsche Rüstung Die Zitt-Werke waren nicht irgendeine Rüstungsfirma. Heute würde man sie als High-Tech-Firma bezeichnen. In den Zitt-Werken wurde an den Strahltriebwerken für die ersten Düsenjäger der Welt gearbeitet. Hier wurden sie zusammengebaut und getestet, hatte etwa der renommierte Mainzer Uni-Professor und Altlasten-Experte Johannes Preuß gegenüber der NW mitgeteilt. In den Anlagen auf dem Ostufer der Neiße gab es Teststände für die Triebwerke der Messerschmitt ME 262. Zudem gibt es Spekulationen um den Bau einer deutschen Rakete unter dem Tarnnamen &bdquo;Wasserfall“ in den Zitt-Werken. Die &bdquo;Wasserfall“-Rakete, die rund 300 Kilogramm Sprengstoff tragen konnte, gilt in der Geschichte als erste Boden-Luft-Rakete zur Flugzeug-Abwehr. Jürgen Ulderup wurde am 12. April 1945 von der Gestapo wegen Wehrkraftzersetzung und Sabotage verhaftet. Er wurde nach Prag gebracht und dort drei Tage später entlassen – offenbar auf Bestreben des dortigen Leiters der Junkers-Werke. Darauf wird in einer Biografie verwiesen, die Historiker im Auftrag der Ulderup-Stiftung erarbeitet hatten. Fanatischer Kreisleiter blieb auf freiem Fuß Der fanatische Lübbecker Nazi-Kreisleiter Ernst Meiring, der unter anderem Andersdenkende drangsalierte, und Kurt von Borries, im Dritten Reich Landrat in Lübbecke, lebten bis zu ihrem Ende unbehelligt in Lübbecke und umzu. Meiring drangsalierte unter anderem den Lübbecker Gewerkschafter Karl Haddewig, der schließlich im Arbeitslager in Lahde von den Nazis ermordet wurde. Meiring wird auch zu den gezählt, die die sinnlose Verteidigung Leverns am 4. April 1945 befahlen. Meiring tauchte unter, lebte einige Zeit unter falscher Identität. 1949 nutzt er eine Amnestie für Nazis, die unter falschem Namen untergetaucht waren. Walter Seger hat sich in seinem Buch &bdquo;Wiederaufnahme“ unter anderem mit Meiring und dessen Gerichtsverfahren befasst. Die Anklage prüft, ob Meiring Verbrechen gegen die Menschlichkeit beging. Das Gericht in Bielefeld verurteilt ihn zu einem Jahr Haft. An seine Anordnungen wollte sich Meiring nicht erinnern können, hielt die Deportation von Bürgern jüdischen Glaubens für eine geordnete Umsiedlung und wollte von Lagern wie in Lahde nichts gewusst haben. &bdquo;Meiring hatte eine weiße Weste und büßte nicht einen Tag im Gefängnis“, so Seger. Kurt von Borries entlastete seinen Parteigenossen. Er starb 1968 in Lübbecke, Meiring 1977 in Lübbecke. 📱News direkt aufs Smartphone: Kostenloser WhatsApp-Kanal der NW Kreis Minden-Lübbecke

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