Schmerzen bei jedem Gang: Minden-Lübbeckerin muss bei Ärzten jahrelang um Diagnose kämpfen

Minden/Porta Westfalica. Bei jedem Gang hat Susanne Krummel Schmerzen - mal stechend, mal drückend. Dazu kommt das Gefühl, dass ihre Beine gleich platzen, abends hat sich deren Volumen verdoppelt. Auch in ihren Armen hat sie solche Beschwerden. Jahrelang quält die Portanerin sich mit den Problemen herum, von den Ärzten sei sie belächelt worden, berichtet sie. Immer wieder habe sie zu hören bekommen, sie solle abnehmen. Doch das klappt einfach nicht. Erst vor drei Monaten erhält sie schließlich die Diagnose: Sie hat ein Lip- und Lymphödem. &bdquo;Endlich hat das Kind einen Namen“, sagt die 40-Jährige. Und endlich kann die Behandlung beginnen, eine Heilung wird es aber nicht geben. Eigentlich handelt es sich beim Lip- und Lymphödem um zwei Krankheitsbilder, berichtet Prof. Dr. Jörg Radermacher, Direktor der Klinik für Nieren- und Hochdruckerkrankungen (Nephrologie) am Johannes-Wesling-Klinikum (JWK). Beim Lipödem handele es sich um eine Fettverteilungsstörung: Das Fett lagere sich vor allem in den Beinen ab, die Arme können zusätzlich betroffen sein. In der Regel erkranken Frauen daran. Die Medizin geht als Ursache von einer erblichen Veranlagung und hormonellen Veränderungen etwa in der Pubertät oder in der Schwangerschaft aus. Etwa jede zehnte Frau sei von einem Lipödem betroffen, jeder 32. Mensch von einem Lymphödem. Hauptursache bei Letzterem ist laut Radermacher eine Beschädigung der entsprechenden Lymphgefäße beispielsweise durch eine Krampfadern- oder Krebsoperation, wenn Lymphknoten entfernt wurden, oder nach einer Bestrahlung. &bdquo;Dann kann die Lymphflüssigkeit, in der wertvolle Eiweiße, aber auch Schadstoffe abtransportiert werden, nicht mehr abfließen und sammelt sich in Armen und Beinen an“, erklärt Radermacher weiter. Laut Internetseite der Deutschen Gesellschaft für Phlebologie und Lymphologie e.V. (www.phlebology.de) neigen Lipödem-Betroffene zudem dazu, vermehrt Wasser ins Gewebe einzulagern. Haut kann aufreißen: Lipödem-Erkrankte haben große Schmerzen Neben den sichtbaren Anzeichen leiden Erkrankte unter anderem unter Schmerzen und Hitzeempfindlichkeit, zunehmende Immobilität ist eine weitere mögliche Langzeitfolge. Jörg Radermacher nennt noch eine Begleiterscheinung des Lymphödems: Die Haut kann aufreißen, Infektionen sind möglich. Mit solchen Beschwerden kommen Betroffene am ehesten ins JWK. Susanne Krummel ist von beiden Erkrankungen gleichzeitig betroffen. Das wusste sie aber jahrzehntelang nicht, rückblickend vermutet sie das auch bei anderen weiblichen Familienmitgliedern - denn ein Lipödem ist vererbbar. Die Portanerin erinnert sich, dass die Schmerzen in den Beinen das erste Mal in der Pubertät auftraten. Damals nimmt die Jugendliche zu, sie habe an einer Essstörung gelitten, berichtet sie heute. Auch nachdem sie die wieder im Griff hat, verliert sie kein Gewicht. Die Schmerzen in den Beinen werden hingegen stärker. &bdquo;Über die Schwangerschaft wurde ich dann voluminös“, erinnert sie sich. 2009 ist das. Kurz vor der Geburt ihres Kindes habe sie 160 Kilogramm gewogen, bei einer Körpergröße von 1,69 Meter - etwa 70 Kilo habe sie in der Schwangerschaft zugenommen. &bdquo;Der Arzt fand das auch komisch.“ Eine Erklärung hatte er nicht. Lesen Sie auch: Lipödem-Sportgruppe für Frauen: &bdquo;Wir sind mehr als dicke Arme und Beine“ Portanerin nimmt bis zu 40 Kilo ab - aber kann das Gewicht nicht halten Ende 2010/Anfang 2011 gelingt es ihr, 30 bis 40 Kilo abzunehmen - aber nicht dauerhaft. &bdquo;Ich habe alles ausprobiert“, sagt Susanne Krummel: Sie ernährt sich fettreduziert und kalorienarm, sucht eine Ernährungsberaterin auf, treibt Sport. Außerdem ist sie in der ambulanten Pflege tätig. &bdquo;Ich hatte viel Bewegung.“ Doch es nützt nichts: Obwohl sie auf Bewegung und Ernährung achtet, klettert die Zahl auf der Waage wieder Richtung 160 Kilogramm. Und es treten weitere gesundheitliche Probleme auf: 2017 erleidet Krummel einen Schlaganfall, vermutlich ist eine Thrombose der Auslöser. Sie kommt ohne bleibende Schäden davon. Vier Jahre später erleidet sie einen zweiten Schlaganfall, zurückbleibt eine linksseitige Schwächung. Mittlerweile ist sie nach eigenen Angaben arbeitsunfähig. Lesen Sie auch: Verbreitet und oft unerkannt: Schweres Leid durch Lipödem Ohne Einkaufswagen kommt sie wegen der Erkrankung nicht durch den Supermarkt Unabhängig davon nehmen die Beschwerden in den Beinen zu. &bdquo;Vor acht bis neun Jahren bin ich noch Joggen gegangen. Mittlerweile komme ich nicht mehr ohne Einkaufswagen zu Fuß durch den Supermarkt“, berichtet sie. Sie sei müde, schlapp, die Beine abends schwer wie Zement, auch Schmerzmittel würden nicht helfen. Krummel berichtet von Dellen und blauen Flecken, auch an den Armen - typische Anzeichen fürs Lipödem. Immer wieder sucht Krummel Hilfe bei Ärzten. Als &bdquo;langen Leidensweg“ bezeichnet die 40-Jährige die Suche nach der Diagnose. Sie fühlt sich nicht ernstgenommen. &bdquo;Ja, ich bin korpulent. Aber das erklärt ja nicht die Schmerzen“, sagt sie. Dicke würden wie Menschen zweiter Klasse behandelt, findet sie. Diagnostik für Lipödem und Lymphödem schwierig Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an Ein Beitrag geteilt von Lipo?dem Gesellschaft e.V. (@lipoedemgesellschaft) Auch Prof. Dr. Jörg Radermacher vom JWK berichtet, dass eine Diagnostik schwierig ist. Für Lymphgefäße gebe es beispielsweise kein eigenes Fachgebiet. Die Methoden, um das Lymphödem nachzuweisen, seien nicht angenehm und würden deshalb kaum angewendet. Am einfachsten sei noch der Stemmer-Test: Lässt sich die Hautfalte über den Zehen nicht mehr anheben, spricht das für ein Lymphödem. Je weiter die Krankheit fortgeschritten ist, desto einfacher sei eine Diagnose möglich. Beim Verlauf dieser Krankheit werden drei Stadien unterschieden: In Stadium eins sei die Krankheit nicht zu erkennen. &bdquo;Da hat man dicke Beine am Abend, ist müde“, zählt Radermacher auf. Über Nacht gehe die Schwellung zurück, weil die Lymphflüssigkeit im Liegen einfacher dem Herzkreislaufsystem zugeführt werden könne als im Stehen, wo die Lymphe entgegen der Schwerkraft die Beine hochgepumpt werden müsse. Ab dem zweiten Stadium gehen die Schwellungen nicht mehr zurück, die Beine bleiben prall, die Haut lässt sich nicht eindrücken. Bei Stadium drei habe sich das Volumen verdoppelt, die Beine seien hart, buckelig, man könne Knötchen ertasten. Er berichtet von Patientinnen, bei denen Beule auf Beule zu sehen war, die Größe der Beine sich vervierfacht habe. &bdquo;Viele Patienten halten eine Menge aus“, sagt der Mediziner über die Betroffenen. Aber ab dem zweiten Stadium gingen die meisten doch zum Arzt. Auch beim Lipödem werden laut Deutscher Gesellschaft für Phlebologie und Lymphologie je nach Erscheinung und Ausmaß der Fettansammlung drei Stadien unterschieden. Suchbegriffe &bdquo;Schwere Beine“, &bdquo;Druck“ und &bdquo;blaue Flecken“ führen zu Ergebnis Bei Susanne Krummel kommt Bewegung in die Sache, nachdem sie den Hausarzt gewechselt hat. Sie ahnt da schon, um was es sich handeln könnte: Sie hat die Stichworte &bdquo;schwere Beine“, &bdquo;Druck“ und &bdquo;blaue Flecken“ gegoogelt und ist auf Lipödem-Internetseiten gelandet. Auch ein Gutachter, bei dem sie wegen ihrer Erwerbsminderungsrente war, hat ihr vergangenes Jahr den Tipp gegeben. Die neue Hausärztin sei dann den Dingen auf den Grund gegangen. Auch sie erwähnt ein Lipödem, überweist sie zum Hautarzt. &bdquo;Ich hatte das Gefühl, da ist jemand, der mir glaubt.“ Das Gefühl sei überwältigend gewesen. Schon beim ersten Blick auf ihre Beine ist die Lage klar, dazu ertastet der Mediziner Knoten: Krummel hat bereits Stadium drei beim Lipödem erreicht, beim Lymphödem Stadium eins. Heilen lässt sich beides nicht, nur behandeln. &bdquo;Man empfiehlt, dass die Patientinnen sich viel bewegen“, erklärt Jörg Radermacher. Das soll den Lymphfluss wieder in Gang setzen. Kompressionsstrümpfe gehören zur Behandlung, vor allem aber werde auf eine Lymphdrainagetherapie gesetzt. All das bekommt auch Susanne Krummel. Die Massage sorgt dafür, dass das Druckgefühl abnimmt. &bdquo;Ich habe danach leichtere Beine, es geht davon aber nicht weg.“ Auch Stützstrümpfe und -stulpen hat sie verschrieben bekommen. Hätte sie vor fünf Jahren die Diagnose und eine Behandlung erhalten, wären die Ausprägungen nicht so schlimm geworden, sagt sie. Lesen Sie auch: Paderborner Lily-Gruppe: Gemeinsamer Kampf gegen Lipödem und Vorurteile Das Einzige, was bei einem Lipödem hilft Das Lipödem hingegen lässt sich mit all dem nicht reduzieren. &bdquo;Die einzige Möglichkeit, das krankhaft vermehrte Unterhautfettgewebe zu verringern, ist eine operative Fettabsaugung“, schreibt die Deutsche Gesellschaft für Phlebologie und Lymphologie. Verschiedene Studien hätten gezeigt, dass der Eingriff die Symptome deutlich bessere bis hin zur Beschwerdefreiheit und das meist für viele Jahre. Manche Patientinnen bräuchten weiterhin eine Kompressionstherapie. Aber: &bdquo;Nehmen die Frauen wieder zu, wird sich auch das Lipödem erneut bilden.“ Auch Susanne Krummel weiß von der Operation, schließt sie aber für sich aus. &bdquo;Die Krankheit ist dann ja nicht weg.“ Nachdem noch eine Schilddrüsenunterfunktion bei ihr festgestellt und behandelt wurde, hat sie zwar vergangenes Jahr 20 Kilogramm abgenommen. Aber: Ihr Body-Mass-Index sei zu hoch, die Krankenkasse würde eine OP ablehnen. Die Kosten werden generell nur in besonders schweren Fällen übernommen. Portanerin gründet Lip- und Lymphödem-Selbsthilfegruppe Das Gefühl, mit ihren Beschwerden alleine zu sein, hat Susanne Krummel jahrelang begleitet. Online hat sie schließlich Betroffene gefunden, das hat ihr aber nicht gereicht. &bdquo;Ich wollte mich mit anderen von Angesicht zu Angesicht austauschen - nicht nur über Social Media.“ Sie erkundigte sich bei der Selbsthilfe-Kontaktstelle von PariSozial Minden-Lübbecke/Herford nach einer Gruppe. Die gab es bislang nicht, auch wenn die Nachfrage da war, berichtet Mitarbeiterin Katja de Vink. Darum nimmt Susanne Krummel den Austausch selbst in die Hand: Die Lip- und Lymphödem-Selbsthilfegruppe für betroffene Frauen und Männer ist vor Kurzem gestartet, sie soll ihnen Halt und die Möglichkeit zum Austausch über die Krankheiten bieten. Und sie soll zeigen, dass Betroffene nicht alleine sind. Susanne Krummel ist von den Gesprächen begeistert. Sieben Frauen seien gekommen, ab 40 Jahren aufwärts. &bdquo;Es gab so viele Aha-Momente.“ Viele hätten einen typischen Leidensweg hinter sich. &bdquo;Ich hab mich aufgehoben und verstanden gefühlt.“ 📱News direkt aufs Smartphone: Kostenloser WhatsApp-Kanal der NW Kreis Minden-Lübbecke

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