„Ich brauche heute für alles Hilfe“: Emotionaler Prozessauftakt zur Gewalttat in der Obermarktstraße

Minden/Bielefeld. &bdquo;Ich war früher ein fröhlicher, gut gelaunter und beweglicher Mensch. Heute brauche ich für alles Hilfe." Als der 36-jährige Damiano S. (alle Namen geändert) vor Gericht darüber spricht, wie es ihm 14 Monate nach der brutalen Attacke in der Obermarktstraße geht, stockt zahlreichen Zuschauern und auch Verfahrensbeteiligten der Atem. Zum Prozessauftakt vor dem Bielefelder Landgericht sagt auch das Opfer aus Minden aus und schildert den folgenreichen 3. März 2024. Das öffentliche Interesse am Verfahren ist groß. Damiano S. ist an diesem Tag nicht nur Nebenkläger, sondern auch als erster Zeuge geladen. Um sich fortzubewegen, braucht der 36-Jährige einen Rollstuhl. Mehrere Narben an seinem kurz geschorenen Kopf erinnern an die Prügelattacke. &bdquo;Es geht mir nicht gut. Ich kann kaum schlafen. Wenn ich die Augen schließe, habe ich Albträume ", sagt der Mindener bei seiner Vernehmung. Hinter ihm liegt ein langer Leidensweg. Als er davon berichtet, kann auch der Angeklagte Sinan H. seine Tränen nicht mehr zurückhalten. Der 23-Jährige soll laut Auffassung von Staatsanwalt Veit Walter gemeinsam mit dem weiterhin flüchtigen Mindener Saban A. (31) für die schweren Verletzungen des Mindeners hauptverantwortlich sein. Nach A. wird seit Mitte Februar öffentlich gefahndet. Sinan H., der zuletzt in Bremen gemeldet war und dort im November 2024 auch festgenommen wurde, macht zu den Vorwürfen am Donnerstag keine Angaben. &bdquo;Zum bisherigen Zeitpunkt wird er sich nicht äußern", sagt sein Verteidiger Ralf Jordan aus Stadthagen. Ursprünglich stammt Sinan H. aus dem Landkreis Schaumburg. In Bad Eilsen führte er nach MT-Informationen schon in jungem Alter ein Restaurant – und beschäftigte immer wieder die Justiz. Mehrfach musste er sich als Jugendlicher wegen Körperverletzungen verantworten. Das spricht zu Beginn des Prozesstages auch der Vorsitzende Richter Christoph Meiring an. Er merkt an, dass die Taten der Vergangenheit – oftmals ging es vor Gericht um Schläge und Tritte – &bdquo;gut ins Bild passen". Danach vernimmt der Richter insgesamt vier Zeugen – und zeigt auf einem TV-Bildschirm eine dreisekündige Videosequenz der Tat. &bdquo;Diese wurde der Polizei von einer unbekannten Person zugespielt", erklärt Meiring. In der Aufnahme ist zu sehen, wie eine Gruppe von sechs Personen zwei auf dem Boden liegende Menschen – mutmaßlich Damiano S. und dessen Cousin – umringt. Zwei von ihnen treten dabei auf ein Opfer ein. Damiano S. wurde bei dem Angriff am 3. März durch Schläge und Tritte so schwer verletzt, dass er Hirnblutungen erlitt. Nur dank zweier Not-Operationen im Johannes-Wesling-Klinikum überlebte er. Der 36-Jährige leidet an einem Schädel-Hirn-Trauma, die Folgen wird er vermutlich sein ganzes Leben lang merken. Während er sich an den Tatabend nur noch rudimentär erinnern kann, schildert er vor Gericht seinen aktuellen Alltag. &bdquo;Ich kann mir nicht mal ein T-Shirt allein anziehen, muss gefahren werden und habe einen Notfallknopf", berichtet der 36-Jährige, der früher als Metallbauer gearbeitet hat. Zwar kann er sich gut artikulieren, viele andere Dinge würden ihn aber einschränken. &bdquo;Ich muss viel weinen und bekommen epileptische Anfälle", schildert der Vater eines achtjährigen Sohnes. Früher habe er den Jungen, der bei seiner Mutter lebt, fast täglich gesehen. &bdquo;Heute kaum noch", sagt er auf Nachfrage des Richters. Sein Sohn habe Angst und Albträume: &bdquo;Er erkennt seinen eigenen Vater nicht." Während er das unter Tränen schildert, hält er eine gehäkelte Wollmütze in der Hand, die sein Sohn zur Geburt bekommen hatte. Zum Thema: Familie von Gewaltopfer aus Minden startet Spendenkampagne Vor Gericht verliest ein Richter dann das Gutachten eines Arztes, das medizinisch untermauert, was Damiano S. zuvor berichtet hat. Neben der vollständigen Lähmung des linken Armes und der teilweisen Lähmung der linken Körperhälfte bestehe auch eine Gehstörung. Der Mindener leide zudem an einer Aufmerksamkeitsstörung und habe ein sogenanntes organisches Psychosyndrom. Dadurch funktionieren manche Denkprozesse oder Gefühle nicht mehr so wie vorher. &bdquo;Das alles ist auf die Gewalteinwirkungen zurückzuführen", urteilt der Mediziner. Über die Hintergründe der Attacke sprechen die drei weiteren Zeugen. Am Vormittag ist das Giovanni H., der Cousin des lebensgefährlich Verletzten. Der 30-jährige Petershäger war am Tatabend zusammen mit dem späteren Opfer, dessen Verlobten, einem Freund und weiteren Personen bei der Eröffnungsfeier einer Bar in der Obermarktstraße. Dort ist es im Laufe des Abends - so schildern es alle Zeugen - zu einer Rangelei gekommen, die kurz vor der Eskalation war. Hintergrund war, so der einhellige Tenor, Eifersucht. Der Freund des 30-jährigen Petershägers, es ist der Bruder des flüchtigen A., unterhielt sich nach Zeugenangaben mit der Verlobten des späteren Opfers. Avancen machte er ihr nicht, auch sei er ihr nicht nah gekommen. Dennoch kam ihr Verlobter dazu und machte klar, dass er dies nicht gut finden würde. &bdquo;Er war aufgebracht", schildert die 28-Jährige. Sie habe gehofft, dass nichts passiert, weil beide Männer lauter wurden. &bdquo;Ich habe da auch Angst verspürt", gibt sie zu. In dem Trubel griffen weitere Personen ein, um die Männer auseinander zu bringen. Einer von ihnen, ein 37-Jähriger aus Bad Oeynhausen, erklärt am Donnerstag vor Gericht, dass er schnell eingeschritten sei. &bdquo;Ich habe mich zwischen sie gestellt", erklärt er. Als der Bruder von A. nach einer Flasche auf dem Tisch griff, sagt er zu ihm: &bdquo;Lass das besser sein." Die Flasche flog stattdessen auf den Boden und der 37-Jährige eskortierte seinen Gegenüber nach draußen. &bdquo;Die werden noch sehen, was sie davon haben", soll der aufgebrachte Mann gesagt haben. Zeitgleich habe er Angst gehabt. &bdquo;Er sagte, dass ihm dort was passieren würde. Aber da war niemand." Auch für Giovanni H. war der Abend zu diesem Zeitpunkt gelaufen, er wurde ebenso vor die Tür gesetzt. Kurz darauf schritt dann erstmals die Polizei ein. Gegen 0.15 Uhr rücken Beamte in der Obermarktstraße an. Diese spricht laut Anklageschrift Platzverweise gegen die Streithähne aus und verlässt den Tatort, als sich alles beruhigt. Wie der Petershäger in seiner Vernehmung erklärt, soll anschließend ein Cousin seines Freundes ein Nachspiel angekündigt haben. Laut Anklageschrift soll der Bruder des flüchtigen Tatverdächtigen dann Saban A. und weitere Personen verständigt haben. Etwa eine Stunde später will Giovanni H. nach eigener Aussage die Stadt verlassen und ruft Damiano S. an. Dieser soll gesagt haben: &bdquo;Warte, wir wollen auch gehen." Als sich die beiden an der Obermarktstraße treffen, reden sie kurz, dann hört der Petershäger schnelle Schritte, dreht sich um und sieht A., gefolgt von mehreren Personen. Sekundenbruchteile später trifft ihn nach Aussage des Zeugen eine Faust, er geht zu Boden und verliert das Bewusstsein. &bdquo;Als ich aufwachte, habe ich nur noch meinen blutüberströmten Cousin gesehen", berichtet er. Auch interessant: Nach versuchter Tötung in Minden: Polizei räumt Versäumnisse ein Er selbst trägt an dem Abend nur leichte Verletzungen davon, doch auch ihm geht das Geschehene nah. Eigenen Angaben zufolge muss er Schlaf- und Beruhigungsmittel nehmen. Auch die Tatsache, dass er seit dem Abend keinen Kontakt mehr zu seinem Cousin und dessen Familie habe, belaste ihn. &bdquo;Sie haben sich von uns abgewendet", sagt er. Erklären könne er sich das nicht. Die Verlobte von Damiano S. sah kurz nach der Attacke beide Männer regungslos auf dem Boden liegen. &bdquo;Ich habe auf eine Freundin gewartet, die auf Toilette war", schildert sie am Donnerstag. Als sie etwas Hektik mitbekommen hatte, ging sie auf die Obermarktstraße. &bdquo;Ich dachte, er lebt nicht mehr. Da war so viel Blut", erinnert sich die Mindenerin. Sie muss schreien, kann sich kaum beruhigen. Das passiert erst, als ein Ersthelfer sagt: &bdquo;Er atmet noch." Von dort an beginnt auch für die Erzieherin eine schwere Zeit. Während ihr Verlobter auf der Intensivstation ums Leben kämpft, muss sie auch für ihre Tochter (7) sorgen. &bdquo;Mir ging es schlecht. Ich bin aber weiter arbeiten gegangen, um mich abzulenken", berichtet sie. &bdquo;Ich musste für alle da sein. Ich hatte keine Zeit, um zu weinen." Heute unterstützt sie ihren Lebensgefährten auf seinem Weg zurück ins Leben. In ein Leben, das nach dieser Nacht, für viele nicht mehr so ist, wie es zuvor war. Der Prozess wird am 14. Mai fortgesetzt. 📱News direkt aufs Smartphone: Kostenloser WhatsApp-Kanal der NW Kreis Minden-Lübbecke

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