Mindenerin bricht Studium ab und pflegt demente Großeltern - was sie daraus lernt

Minden. Die Großeltern waren für Pia Büchel immer ein sicherer Ort: Sind die Eltern arbeiten, ist das Mädchen bei ihnen, sie wohnen im selben Haus. &bdquo;Mit meiner Oma gab es nie Streit“, erinnert sich die heute 25-Jährige. Als sie elf ist, ziehen sie und die Eltern zwar aus, der enge Kontakt aber bleibt. Vor ein paar Jahren beginnt die Seniorin sich zu verändern, besonders stark fällt der Enkelin das 2019 auf: Dass sie eben erst mit ihrem Sohn einkaufen war – daran erinnert sich die alte Frau schon kurz darauf nicht mehr. Büchel fährt mit ihr zum Hausarzt, schließlich steht die Diagnose fest: Demenz. Zeitgleich baut ihr Großvater körperlich ab. Pia Büchel trifft eine Entscheidung: Ende 2019 gibt sie ihr Studium auf und zieht von Berlin zu den Großeltern. Sie will sich um sie kümmern. Über die Erfahrungen und die Herausforderungen mit dementen Großeltern will sie sich nun in einer neuen Gruppe austauschen. In Deutschland leben rund 1,8 Millionen Menschen mit Demenz. Unter dem Oberbegriff sind viele verschiedene Erkrankungsformen zusammengefasst. &bdquo;Es ist ein langsamer Prozess“, erklärt Angelique Schneckener vom Demenznetz im Kreis Minden-Lübbecke zum Krankheitsverlauf. Vergesslichkeit und Sprachstörungen sind erste Anzeichen. &bdquo;Betroffene sind im Denken verlangsamt, in einem fremden Umfeld orientierungslos“, zählt die Pflegeberaterin auf. Den Partnern fällt das oft weniger auf als Kindern oder Enkeln – diese sind es auch, die sich meistens an das Hilfsnetzwerk wenden, zu dem unter anderem Einrichtungen und Dienste sowie Kostenträger im Gesundheitswesen gehören. Alle paar Sekunden fragt die Oma nach dem toten Großvater Auch ihr Großvater habe keine Veränderung bemerkt, berichtet Pia Büchel. &bdquo;Aber er hatte da schon sehr abgebaut. Vermutlich wollte er sie schützen.“ Dabei attackiert seine Frau ihn körperlich, er habe viele blaue Flecken gehabt – eine veränderte Persönlichkeit ist eine weitere Folge der Erkrankung. Zu ihr sei die Oma aber immer lieb gewesen, betont Büchel. Nach der Rückkehr aus Berlin folgt eine herausfordernde Zeit mit durchaus schönen Momenten, wie die Enkelin betont. Ihr 89-jähriger Großvater schläft viel. &bdquo;Dann habe ich mich mit meiner Großmutter beschäftigt. Sie konnte nicht gut alleine sein“, berichtet Büchel. Ein Pflegedienst übernimmt das Duschen, für die Großmutter stellt er die Tabletten zusammen – um das andere kümmert sich die junge Frau. Im April 2020 stirbt der Opa. Dass der Ehemann nicht mehr da ist, daran erinnert sich die 87-Jährige nicht. &bdquo;Alle 30 Sekunden hat sie nach ihm gefragt.“ Die Enkelin basteltet der Oma ein Buch, das die Situation erklärt – damit sie das nicht dauernd tun muss. &bdquo;Aber ab einem bestimmten Punkt bringt das nichts mehr.“ Demenz ist nicht heil- oder aufhaltbar, erklärt Pflegeberaterin Angelique Schneckener, man kann nur den Verlauf medikamentös verzögern. Gruppe für Enkel von demenzerkrankten Großeltern Entlastung bieten Büchel die Angebote des Vereins &bdquo;Leben mit Demenz - Alzheimergesellschaft Kreis Minden-Lübbecke“. Er bietet Menschen mit (Früh-)Demenz und ihren Angehörigen Ausflüge, Vernetzung und Austausch an. Während Ehrenamtliche sich um die Demenzkranke kümmern, kann die junge Frau, die ein neues Studium begonnen hat, durchatmen. Mittlerweile macht Pia Büchel bei dem Verein mit Sitz in Minden ihr Anerkennungsjahr. Hier gibt es auch Gesprächsgruppen für Töchter und Söhne sowie Partner von Erkrankten. &bdquo;Die Kinder sind ab Mitte 40 aufwärts“, erklärt Lothar Möller, der wegen seines demenzkranken Vaters Austausch suchte und die Runden mittlerweile moderiert. Durch Büchel sei klar geworden, dass man die Enkelkinder gar nicht im Blick hatte, für die die Situation auch herausfordernd sei. Lesen Sie auch: Demenz: Fakten und Therapiemöglichkeiten für Betroffene im Überblick Nun will Büchel eine Gruppe für betroffene Enkel gründen. &bdquo;Großeltern sind für viele von ihnen wie ein Elternteil, es ist oft der erste Verlust, den sie erleben“, erklärt sie. Die Erkrankungen verändert auch für sie vieles: Manche steigen in die Pflege ein, weil die Eltern keine gute Beziehung zu den Großeltern haben. Ähnlich war es bei ihr. Eine andere Problematik: Die Enkel geraten zwischen die Fronten, wenn ihre Eltern mit der Pflege überfordert sind. Der Rollentausch verändert zudem die Eltern-Kind-Beziehung, es gibt mehr Reibungspunkte mit den Demenzkranken, weiß Lothar Möller. Zwischen Großeltern und Enkeln treten sie dagegen weniger auf, findet Pia Büchel. Weil das Verhältnis ein anderes sei. Irgendwie sei die Kommunikation leichter, die Enkel im Umgang unbedarfter. So oder so hat die Demenzerkrankung Auswirkungen auf das System Familie, meint Möller. Das zeigt auch das Beispiel von Kristin: Die 25-Jährige kümmert sich gemeinsam mit ihrer Mutter um die demente Oma, alle drei leben in einem Haus. Deshalb will Kristin anonym bleiben. Auch ihre Beziehung zur Großmutter war immer eine besondere. &bdquo;Ich bin bei ihr mit aufgewachsen. Zu sehen, wie sie geistig abbaut, ist ganz schwer. Früher konnte sie jede einzelne Blume im Garten benennen. Das geht jetzt nicht mehr.“ Tochter und Enkelin kümmern sich um 91-Jährige Anzeichen wie Vergesslichkeit treten bereits vor vier bis fünf Jahren auf, sie haben das aufs Alter geschoben. Auch wegen ihrer Berufstätigkeit sei ihnen das Ausmaß nicht klar gewesen, erklärt die 25-Jährige. Dann kommt die Großmutter vor zwei Jahren mit einer Lungenentzündung ins Krankenhaus – und haut von dort ab. Sie wird später an der Lübbecker Straße gefunden. &bdquo;Sie war völlig durcheinander und schwach.“ Im Krankenhaus sei sie aufgepäppelt worden. Es habe ein halbes Jahr gedauert, bis sie einen Termin bei einem Neurologen bekommen hätten, der dann die Demenz feststellt und den Verdacht bestätigt. Lesen Sie auch: Herforder Demenzberaterin gibt neun Tipps, wie wir das Risiko selbst senken können Mittlerweile hat die 91-Jährige Pflegegrad 3. Sie wohnt weiter in ihrer Wohnung im Erdgeschoss. Das funktioniere noch ganz gut, die alte Frau ist zum Beispiel nicht noch einmal weggelaufen. Sie vergesse aber, zu essen und zu trinken. Kristin L. und ihre Mutter teilen sich neben der Arbeit die Betreuung. Die 25-Jährige macht vermehrt Homeoffice. &bdquo;Abends schauen wir, dass immer jemand zu Hause ist.“ Dann isst zum Beispiel jemand mit ihrer Oma, damit diese nicht alleine sei. Das Verhältnis der beiden hat sich verändert. &bdquo;Wir streiten mehr. Sie möchte sich nichts von mir sagen lassen“, berichtet Kristin. Zur Sorge um die Oma kommt die um die Mutter. &bdquo;Ich versuche, sie mehr zu entlasten.“ Die junge Frau übernimmt die Einkäufe, koordiniert Arzttermine – neben ihrem Vollzeitjob. &bdquo;Es macht mir nichts, statt um acht Uhr abends erst um neun Uhr auf der Couch zu liegen“, sagt sie. Pflegende Angehörige müssen auch auf sich selbst achten Entlastung von außen lehnt die Seniorin ab. &bdquo;Sie meint, dass sie alleine klarkommt.“ Zwar merke ihre Großmutter, dass sie vergesslich sei. &bdquo;Aber sie weiß nicht, dass sie Demenz hat.“ Dass der Pflegedienst sie wäscht, möchte die 91-Jährige nicht. Also erinnert Kristin sie daran. Sie selber wolle das nicht bei ihrer Oma übernehmen. Auch eine Tagespflege möchte die Seniorin nicht besuchen. Lesen Sie auch: So offen geht ein Herforder Ehepaar mit der Erkrankung Demenz um Seit zwei Monaten tauscht sich Kristin mit anderen Angehörigen in einem der Gesprächskreise über die Herausforderungen aus. Ein Thema, was dort auch immer wieder auftaucht, ist die Sehnsucht nach Dankbarkeit. &bdquo;Die Kinder wünschen sich eine positive Anerkennung. Die wird der Demente aber nicht zurückgeben“, weiß Lothar Möller. Der Leidensdruck sei darum bei einem erkrankten Elternteil stärker, als wenn ein Partner betroffen sei – so ist sein Eindruck. Auch Kristin sagt: &bdquo;Meine Oma sieht es als selbstverständlich an, was wir tun.“ Angehörige müssen aufpassen, dass sie sich nicht selbst vergessen. &bdquo;Hilfen anzunehmen, fällt den Menschen oft schwer. Viele denken, sie müssten es alleine schaffen“, weiß Pflegeberaterin Angelique Schneckener aus den Gesprächen. Das Demenznetz berät Angehörige und Erkrankte, verweist zur Diagnostik an Ärzte und hilft zum Beispiel bei der Beantragung eines Pflegegrads. Es schaut aber auch, welche Entlastungsangebote es gibt. Denn: &bdquo;Nur wer sich selber pflegt, kann selber pflegen“, sagt Schneckener. Dementen keine W-Fragen stellen Ein solches Angebot soll auch die neue Enkel-Gruppe sein, die von der Ursula-Böhm-Seniorenstiftung finanziert wird. Geplant sind Auszeitangebote, ein Austausch in Präsenz, aber auch in digitaler Form, zudem soll es Schulungen etwa zur Kommunikation mit Dementen geben. &bdquo;Keine W-Fragen stellen, sondern nur solche, auf die mit Ja oder Nein geantwortet werden kann“, nennt Pia Büchel ein Beispiel. Es sei belastend, dass in Gesprächen nichts mehr zurückkommt, weiß die 25-Jährige. Andererseits gebe es auch schöne Situationen, in denen man zusammen schweigen könne. Auch Büchel hat sich während der Pflegezeit selber fast verloren. &bdquo;Ich habe am Ende einen Kontrollzwang entwickelt.“ Sie habe gedacht: Nur sie könne sich um ihre Großmutter kümmern. &bdquo;Es gab schon viele Phasen, in denen ich überfordert war“, gibt sie zu. Schließlich hätten ihre Eltern die Reißleine gezogen und Ende 2020 einen Platz in einem Pflegeheim für die Großmutter gesucht. &bdquo;Das schlechte Gewissen ist immer noch da.“ Ein- bis zweimal pro Woche besuche sie die alte Frau im Pflegeheim. Bei einem der gemeinsamen Spaziergänge sei auch das Foto entstanden, mit dem für die neue Gruppe geworben wird. Enkelin und Großmutter sitzen auf einer Bank und unterhalten sich. &bdquo;Ich habe zu ihr gemeint, dass es doch bestimmt anstrengend sei, mich die ganze Zeit anschauen zu müssen.“ Ihre Oma habe das verneint. &bdquo;Gar nicht, weil ich dich liebe.“ Das sei so schön gewesen.

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